Scholz-Machtwort zu AKW: Wie viel Macht hat der Kanzler wirklich?

Stand: 18.10.2022, 12:20 Uhr

Bundeskanzler Scholz hat ein "Machtwort" gesprochen. Er beruft sich dabei auf die Richtlinienkompetenz. Was ist das eigentlich - und wie viel Macht hat der Kanzler damit wirklich?

Von Nina Magoley

Sollen die letzten drei deutschen Atomkraftwerke angesichts der Energiekrise noch länger als geplant weiterlaufen? Nach einem zähen Streit um diese Frage und scheinbar verfahrenen Positionen innerhalb der Ampel-Koalition hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Montag ein "Machtwort" gesprochen. Er hat dazu von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht - so lautet der Vorgang im Fachjargon.

Der Kanzler wies die zuständigen Minister an, Gesetzesvorschläge zu machen, damit die drei AKW Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland über das Jahresende hinaus maximal bis zum 15. April 2023 weiterlaufen können.

Das Erstaunen über des Kanzlers Wort war groß. Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) sprach in der ARD von einer "unüblichen Lösung einer verfahrenen Situation", für die Scholz die "maximale Autorität" eingesetzt habe. Der Kanzler habe aber einen Weg gezeigt, "mit dem ich gut arbeiten und leben kann".

Die Spitze der der Grünen-Fraktion nannte die Anordnung "bedauerlich". Nach Beratungen am Dienstagvormittag ist nun aber klar: Die Grünen-Bundestagsfraktion wird den Kompromiss zur längeren Nutzung der drei Atomkraftwerke mittragen.

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Was besagt die Richtlinienkompetenz?

In seinem Brief an die zuständigen Ministerien berief sich Scholz auf "Paragraph 1 der Geschäftsordnung der Bundesregierung". Darin heißt es: "Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der inneren und äußeren Politik. Diese sind für die Bundesministerien verbindlich und von ihnen in ihrem Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung zu verwirklichen. In Zweifelsfällen ist die Entscheidung des Bundeskanzlers einzuholen." Und weiter: "Der Bundeskanzler hat das Recht und die Pflicht, auf die Durchführung der Richtlinien zu achten."

Das Deutsche Grundgesetz definiert die Machtposition des Bundeskanzlers noch präziser. In Artikel 65 heißt es: "Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung. Über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern entscheidet die Bundesregierung."

Welche Macht hat das Machtwort tatsächlich?

Der Wissenschaftliche Dienst der Bundesregierung hatte 2018 eine Stellungnahme zu dieser Frage formuliert. Demnach sei die Auslegung des Begriffs Richtlinienkompetenz "schwierig". Der Kanzler könne die Themen bestimmen, die Ausfüllung liege dann "in den Händen der Bundesminister, die ihrerseits über eine entsprechende Ressortverantwortung verfügen".

Neben politischen Leitlinien habe der Kanzler das Recht, auch in Einzelfällen Entscheidungen zu treffen, die "eine derartige politische Bedeutung besitzen, dass sie einer Richtungsentscheidung gleichkommen". Für die Bundesministerien seien die Richtlinien "grundsätzlich rechtlich verbindlich". Wie sie konkret umgesetzt werden - das sei aber weder in der Verfassung noch in der Geschäftsordnung der Bundesregierung genauer beschrieben.

Verfassungsrechtler streiten sich offenbar darüber, welche Durchgriffsrechte der Kanzler am Ende wirklich hat. Die meisten lehnten solche unmittelbaren Befugnisse grundsätzlich ab, schreibt der Wissenschaftliche Dienst: Zwischen Bundeskanzler und Bundesministern bestehe "kein klassisches Vorgesetzten-Untergebenen-Verhältnis".

Einige Juristen berufen sich dabei auf das Grundgesetz. Nach Artikel 38 sind die Abgeordneten des Deutschen Bundestages "an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen". Der Politikiwissenschaftler Eberharf Schuett-Wetschky hält die Richtlinienkompetenz daher für einen "Fremdkörper in der Parteiendemokratie" und "faktisch bedeutungslos".

Auch der Wissenschaftliche Dienst der Bundesregierung kommt zu einem ähnlichen Schluss: Die Richtlinienkompetenz stehe dem Kanzler laut Gesetz zwar voll und ganz zu, sie passe aber "als hierarchisches Führungsinstrument ... nur schwer in die bestehenden Parlaments- und Parteistrukturen".

Es gebe aber auch verfassungsrechtliche Stimmen, wonach der Bundeskanzler sehr wohl ein "Selbsteintrittsrecht" habe, "wenn dieser andernfalls schwerwiegende parlamentarische Konsequenzen fürchten müsste".

Wie geht es weiter nach dem "Machtwort"?

Fakt ist: Die Richtlinienkompetenz gilt nur gegenüber der Bundesregierung. Soll, wie in diesem Fall, aufgrund der Anordnung des Kanzlers ein Gesetz geändert werden, muss das der Bundestag beschließen.

Sollten die angesprochenen Ministerien das "Machtwort" des Kanzlers nicht befolgen, bliebe dem Bundeskanzler nur die Möglichkeit, die zuständigen Ministerinnen oder Minister zu entlassen. Das wiederum müsste der Bundespräsident genehmigen.

Gab es das schon mal?

Im März 2020 wollte die Initiative "FragDenStaat" einmal von der Bundesregierung wissen, wie oft die damalige Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bereits von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht hätte. Die Antwort des Justizministeriums: Dazu lägen "im Aktenbestand des Bundeskanzleramtes keine amtlichen Informationen vor, da die Ausübung der Richtlinienkompetenz nicht gesondert dokumentiert wird".

Merkel soll aber in verschiedenen Situationen damit gedroht haben, ihre Richtlinienkompetenz zu nutzen, wenn die Bundesregierung nicht zu einer Einigung zum jeweiligen Thema kommen würde.

Interessant: Als Merkel 2005 Kanzlerin der Großen Koalition aus CDU, CSU und SPD wurde, brach ein heftiger Streit unter den Groko-Parteien darüber aus, ob Merkel ihre Richtlinienkompetenz nutzen dürfe, wenn doch die Regierung aus verschiedenen politischen Lagern gebildet sei.

Auch der ehemalige SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte während seiner Amtszeit mehrmals auf seine Richtlinienkompetenz hingewiesen. Als die Bundesregierung beispielsweise 2001 den USA Unterstützung für amerikanische Angriffe auf Afghanistan zusichern wollte und die Grünen dagegen waren, erklärte Schröder, er habe nicht die Absicht, Abstriche an seiner Richtlinienkompetenz machen: "Das, was ich gesagt habe, gilt."

Helmut Schmidt (SPD), Bundeskanzler von 1974 bis 1982, sagte am Ende seiner Amtszeit, er habe in den über acht Jahren von der Richtlinienkompetenz keinen Gebrauch gemacht. "Ich habe es vielmehr immer als meine Pflicht angesehen, große Anstrengungen auf das Zustandebringen von vernünftigen, praktisch brauchbaren, beiden Seiten gleichermaßen zumutbaren Kompromissen zu verwenden."

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