Gesetzchaos um Straßenbau - Bürger sollen hunderte Millionen zahlen
Stand: 30.03.2023, 14:13 Uhr
Die Landesregierung hat ein umstrittenes Gesetz erlassen: Für öffentliche Straßen, die es seit Jahrzehnten gibt, sollen Bürger bis zu über eine Milliarde Euro bezahlen. Betroffen sind zehntausende Menschen in NRW.
Von Anett Selle
Die Stappstraße in Netteltal sieht aus wie eine ganz normale Straße. Sie scheint auch alles zu können, was eine normale Straße so kann. “Für mich fehlt hier nichts”, sagt Anwohner Reinhold Bonnacker. “Laternen sind hier, hier liegt ein Kanal drin, der ’95 gelegt worden ist, hier liegen die ganzen Versorgungsleitungen – Gas, Wasser, Strom. Alles ist da.”
Die Stappstraße ist asphaltiert, man kann sie begehen, befahren, ihre Gullideckel zählen. Reinhold Bonnacker und die anderen Anwohner, die sich heute vor einer Einfahrt versammelt haben, sind ganz sicher, dass es ihre Straße gibt. Und zwar seit Langem. “Die existiert übrigens seit 1900 auf jeden Fall”, sagt Anwohnerin Helga Schulze. “Da ist der alte Teil von meinem Elternhaus nämlich gebaut worden.”
Straßenbaukosten aus dem letzten Jahrhundert
Aufgrund eines umstrittenen Gesetzes, das die schwarz-grüne Landesregierung am Mittwochabend mit eigener Mehrheit gegen die Stimmen aller Oppositionsparteien erlassen hat, sieht die Nachbarschaft in der Stappstraße einer Rechnung von hunderttausenden Euro entgegen: Unter anderem für Straßenbaukosten aus dem letzten Jahrhundert.
Die Stappstraße ist eine von tausenden “Erschließungsstraßen” in NRW, die mindestens Jahrzehnte alt sind, die auch benutzt werden, aber amtlich nie fertiggestellt wurden – oder abgerechnet. Abgerechnet werden sämtliche, auch historische Baukosten solcher Straßen erst nach Fertigstellung. Man kann sich das vorstellen wie einen offenen Deckel in einer Bar, auf dem seit Jahrzehnten Kosten dazukommen: Der erste Asphalt, ein neuer Kanal zehn Jahre später, der neue Asphalt nach der Kanalverlegung, dies das. Irgendwann bekommt irgendwer die Rechnung.
Gesetz im Vorjahr: Abrechnung nur 25 Jahre nach Baubeginn
Mit sowas sollte eigentlich Schluss sein. Im vergangenen Jahr – vor der Landtagswahl – machte die CDU eine Ankündigung wahr: Unter der Leitung von Bau- und Kommunalministerin Ina Scharrenbach (CDU) wurde ein Gesetz erlassen, das dafür sorgte, dass Erschließungsstraßen nur noch bis 25 Jahre nach Baubeginn abgerechnet werden durften.
Ina Scharrenbach sagte im April 2022 dazu: “Hiermit soll Rechtssicherheit auch für die Fälle geschaffen werden, in denen die Errichtung einer Erschließungsanlage nicht innerhalb einer angemessenen Frist zu Ende geführt und abgerechnet worden ist.”
Doch genau diese Regel hat die Landesregierung nun wieder gestrichen. Rückwirkend. Unter Leitung derselben Bau- und Kommunalministerin. Damit sind plötzlich allein in 62 der knapp 400 NRW-Kommunen über tausend Straßen plötzlich wieder abrechenbar, die zuvor verjährt gewesen wären. Allein bei diesen knapp 20 Prozent der Kommunen geht es bei den betroffenen Straßen bereits um Ansprüche gegen Anlieger in Höhe von 243 Millionen Euro (Quelle: Städte- und Gemeindebund).
Es war einmal ein Gesetz - aber ein verfassungswidriges
Wie konnte es so weit kommen? Die vorherige, schwarz-gelbe Landesregierung hatte letztes Jahr erst die Neuerung erlassen. Leider stellte sich danach heraus, dass nicht sauber gearbeitet wurde: Die Frist nach Baubeginn ist in der Form, wie sie eingeführt wurde, höchstwahrscheinlich verfassungswidrig. “Da weisen jetzt seit Inkrafttreten des Gesetzes mehrere, auch Verfassungsrechtler, darauf hin, dass es dem Verfassungsrecht nicht genüge tut”, sagt die verantwortliche Ministerin Ina Scharrenbach gegenüber Westpol. Eine Neuerung musste her.
Die Neuerung, für die sich die Landesregierung entschieden hat, ist eine Frist ab sogenannter Vorteilslage. Während der Baubeginn ein konkreter Zeitpunkt ist, den auch Laien verstehen, ist die Vorteilslage ein hochkomplexes juristisches Konstrukt. Eigentlich bezeichnet sie den Zeitpunkt, ab dem Anlieger einen Vorteil durch die Straße haben. Aber wann das ist?
Gericht: Frist läuft erst, wenn Straße fertig ist
Das Oberverwaltungsgericht NRW sieht es so, dass unter anderem erst das gesamte öffentlich einsehbare Bauprogramm umgesetzt sein muss. Sprich: Die Frist finge erst an zu laufen, wenn die Straße fertig ist. Was das in der Praxis bedeutet, erklärt Jan Koch vom Verband Wohneigentum am Beispiel des Asphalts aus der Nazizeit, den man nun wieder würde mitbezahlen müssen: “Auf’m Rott wurden circa 2010 die letzten Gehwegplatten gelegt. Also wäre die Straße mit der Gesetzeslage, wie sie jetzt wieder kommt, bis 2030 abrechenbar.”
Dass vergangenes Jahr überhaupt Verjährungsfristen eingeführt wurden, lag an einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Den bisherigen Zustand, dass es gar keine Verjährungsfristen für Baukosten von Straßen gab, diese also unendlich lange abgerechnet werden konnten, ordnete es als verfassungswidrig ein. Also erließ NRW die Frist ab Baubeginn von 25 Jahren.
"Schlaflose Nächte" für die Anwohner
“Es bringt schlaflose Nächte”, sagt Anwohner Michael Meertz in der Stappstraße. “Es sind auch wirklich Anwohner hier, die darüber nachdenken, zu verkaufen und wegzuziehen. Und auch meine Frau und ich haben darüber nachgedacht. Was machen wir denn jetzt?” In der Stappstraße wohnen einige junge Familien, aber vor allem viele Rentner. Und die historischen Baukosten seit anno dazumal sind gar nicht das Hauptproblem.
Würde die Stappstraße als fertige Straße gelten, wäre jede weitere Baumaßnahme eine Sanierung: Sanierungskosten teilen sich das Land und die Kommune zur Hälfte. Gilt die Straße aber immer noch als Erschließung, kommen die neuen Kosten auf den offenen Deckel: Wird irgendwann alles abgerechnet, zahlt das Land nichts, die Kommune zehn Prozent – und die Anlieger zahlen 90 Prozent. Weitere Baukosten kommen auf alle Anlieger von Straßen zu, die nun vom Wegfall der Verjährungsfrist betroffen sind. Wären keine weiteren Baumaßnahmen geplant, wären die Straßen ja offiziell fertig.
Stadt Nettetal: "Straße wird erstmalig hergestellt"
Auch die Stadt Nettetal will die Stappstraße nun rückbauen und nochmal neumachen – was 750.000 Euro aufwärts kosten soll – und dann endlich alles abrechnen. Mit den heutigen Anliegern, die gar nicht wollen, dass ihre Straße nochmal neugemacht wird. Aber sie dürfen nicht mitentscheiden - und aus Sicht der Stadt Nettetal wird die Stappstraße ja auch gar nicht neugemacht, weil sie noch gar keine Straße ist. Die Stadt antwortet auf eine Westpol-Anfrage: “Aus Sicht der Stadtverwaltung wird mit dem geplanten Straßenbau die Stappstraße als Erschließungsanlage erstmalig hergestellt.”
Die Anlieger in der Stappstraße rechnen mit Einmalzahlungen in mittlerer fünfstelliger Höhe. Wie hoch genau, das habe ihnen noch niemand sagen können. Für einige hier könnte das bedeuten, dass sie ihr Haus verlieren, sagt Rentnerin Helga Schulze. “Wenn Sie älter sind, irgendwann sagt die Sparkasse, es gibt keinen Kredit mehr, Sie sind zu alt.”
Frist ab Baubeginn gilt in Bayern
Dabei wäre die Frist ab Baubeginn möglich: Und zwar rechtssicher sowie im Einklang mit der Verfassung. Bayern beispielsweise, hat die Frist ab Baubeginn erfolgreich eingeführt. Nur: Es ist umständlicher. Das Gesetz, das Erschließungen regelt, ist Bundesrecht. Will man hier eigene Regeln hinzufügen, muss man dieses Bundesrecht erst selbst übernehmen – es also durch Landesrecht ersetzen – und kann dann Dinge zu diesem eigenen Landesrecht hinzufügen. Zum Beispiel eine Verjährungsfrist ab Baubeginn. So hat es Bayern gemacht.
In NRW allerdings, wurde das im vergangenen Jahr nicht getan: Man hat lediglich eine eigene Regelung zur Frist ab Baubeginn hinzugefügt, ohne ein eigenes Landesrecht. Das ist der Grund, warum die Frist ab Baubeginn aus dem vergangenen Jahr nun als verfassungswidrig gilt.
Scharrenbach: "Dann würden wir von vorne anfangen"
Anstatt das zu reparieren und es so zu gestalten wie in Bayern, hat die Landesregierung die Frist ab Baubeginn nun rückwirkend abgeschafft. Ina Scharrenbach begründete das gegenüber Westpol in der vergangenen Woche: “Dann würden wir mit allem wieder von vorne anfangen in Nordrhein-Westfalen und das würde weder zugunsten der Bürgerinnen und Bürger noch zugunsten der Kommunen laufen.”
Die NRW-Kommunen freuen sich über eine Finanzspritze
Für die klammen NRW-Kommunen bringt das neue Gesetz natürlich eine willkommene Finanzspritze. “Die rückwirkende Aufhebung der 25-Jahres-Frist ab Beginn der erstmaligen technischen Herstellung ist richtig”, so der Städte- und Gemeindebund. “Die Frist war letztes Jahr im Gesetzgebungsverfahren voreilig und überraschend eingeführt worden. Die Kommunen hatten keine Zeit, sich auf diese Frist einzustellen”.