Landtag debattiert zu Solingen: Josefine Paul unter Druck
07:49 Min.. Verfügbar bis 30.08.2026.
Anschlag von Solingen: Landtag ringt um Schuldzuweisungen
Stand: 30.08.2024, 14:43 Uhr
Nach dem tödlichen Anschlag von Solingen debattiert der Landtag, wer die politische Verantwortung trägt. Eine Ministerin steht im Fokus.
Von Nina Magoley
Die tödliche Messerattacke von Solingen am vergangenen Samstag hat deutliche Versäumnisse offenbart - bei den zuständigen Behörden, aber auch in der Politik. Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) hatte den Landtag NRW am Freitagmorgen zu einer Sondersitzung einberufen.
Im Fokus der Kritik: Josefine Paul
Im Zentrum der Kritik steht mittlerweile Integrationsministerin Josefine Paul (Grüne): Der mutmaßliche Täter Issa Al H. hätte eigentlich schon im vergangenen Jahr nach Bulgarien abgeschoben werden sollen. Doch der einzige Abschiebungsversuch scheiterte. Der 26-jährige Syrer konnte dann unbehelligt in einer Solinger Flüchtlingsunterkunft leben.
Regierung sieht Ursachen auf höherer Ebene
Die große Frage nach dem Warum bestimmte auch die Parlamentsdebatte am Freitag. Die Redner der schwarz-grünen Regierungskoalition tendierten dabei deutlich dahin, die Ursachen auf höherer politischer Ebene zu suchen.
Nach WDR-Recherchen zeigen dagegen E-Mails aus dem NRW-Flüchtlingsministerium an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) kurz nach dem Anschlag, dass es offenbar grundsätzliche Wissenslücken zum Verfahren bei der Rückführung abgewiesener Flüchtlinge gab.
Wüst verteidigt Ministerin Paul
Ja, es habe Versäumnisse gegeben bei dem Versuch, Issa Al H. nach Bulgarien zu überstellen, räumte Wüst ein, verteidigte dann aber seine Ministerin: Paul habe den Sachstand gegenüber Parlament und Öffentlichkeit "umfassend berichtet". Sie habe bereits "erste Versäumnisse benannt und zugleich Verbesserung veranlasst."
Wüst auf Sondersitzung des Landtags
Doch bei den Behörden liege nicht die Wurzel des Problems. Die "wichtigste Waffe" der Islamisten sei ihre Ideologie, die sie über die sozialen Medien ungehindert verbreiteten, so Wüst. "Hier die Verbindungen zu kennen ist der wichtigste Schlüssel zur Gefahrenabwehr". Polizei und Nachrichtendienste müssten "auch rechtlich so ausgestattet sein, dass sie mithalten können".
Gefahrenabwehr scheitert an Datenschutz
In Deutschland aber sei der Datenschutz oft ein Hindernis dabei. Mehrmals konnten in der Vergangenheit islamistische Anschlagspläne in NRW nur aufgrund von Hinweisen ausländischer Geheimdienste vereitelt werden.
Dann verwies Wüst auf den Bund, der bei der Frage der irregulären Migration "endlich zu wirksamen Lösungen" kommen müsse. Noch vor wenigen Tagen hatte Wüst seinem Parteikollegen Friedrich Merz bei dessen Forderung, Asylbewerber aus Afghanistan und Syrien pauschal abzulehnen, zunächst zugestimmt. Am Freitag ruderte er etwas zurück: Asyl sei ein "Gebot der Menschlichkeit" - dennoch müsse die "irreguläre Migration" derer, die kein Recht auf Asyl in Deutschland haben, verhindert werden.
SPD fordert Sonderermittler - erfolglos
SPD-Oppositionsführer Jochen Ott forderte "mehr Selbstkritik und keine Ausflüchte" von der Landesregierung - und griff den Ministerpräsidenten frontal an: "Es ist das Abschiebemanagement dieser Regierung, das nicht funktioniert hat", rief er Wüst zu, "sie hatten die Verantwortung". Wüst sei nicht in der Lage, wie er zuvor selber gefordert habe "Recht und Gesetz durchzusetzen".
Dem Innenminister Herbert Reul (CDU) attestierte Ott einen "schwachen Auftritt", als er vor Medien wiederholt betont hatte, er sei "nicht zuständig" für misslungene Abschiebungen. Flüchtlingsministerin Paul kritisierte er dafür, dass sie vier Tage lang nach dem Anschlag nicht in der Öffentlichkeit erschienen war. In diesem Ministerium gebe es "Personalfragen" zu prüfen, so Ott.
Die SPD fordere einen Sonderermittler zur Aufarbeitung des Terroranschlags von Solingen. "Die Menschen erwarten schnell Antworten", sagte Ott. Der entsprechende Antrag wurde aber am Ende der Sondersitzung mehrheitlich abgelehnt.
Auch FDP-Landtagsfraktionschef Henning Höne warf Ministerpräsident Wüst vor, keinen einzigen Vorschlag gemacht zu haben, der auch die Landesregierung in der Zuständigkeit sehe. NRW müsse auch die Möglichkeit der Abschiebehaft konsequenter nutzen, sagte Höne, dazu brauche es neben der vorhandenen in Büren eine zweite Abschiebehaftanstalt.
Ministerin Paul: Erste Maßnahmen getroffen
Die im Fokus stehende Ministerin Paul selber wiederholte ihre Erläuterungen der vergangenen Tage dazu, warum die Rückführung des Syrers nicht erfolgte. Das sogenannte Dublin-Verfahren, wonach abgelehnte Asylbewerber in das Land überstellt werden sollen, in dem sie zuerst als Flüchtlinge registriert wurden, sei ein mangelhaftes und ungerechtes System, sagte Paul. Nur zehn bis 15 Prozent der geplanten Dublin-Überstellungen würden überhaupt durchgeführt. Die Rücknahmeländer setzten oft die Bedingungen so hoch an, dass sie kaum zu erfüllen seien.
Paul nannte Maßnahmen, die ihr Ministerium bereits angeordnet habe, um die zuständigen Behörden zu stärken: Ab sofort hätten die Zentralen Ausländerbehörden Zugriff auf An- und Abwesenheitserfassungssysteme inden Flüchtlingsheimen des Landes. Auch sollen diese Behörden direkt informiert werden, wenn Personen, deren Abschiebung bevorsteht, sich in der jeweiligen Unterkunft befinden. Bei Issa Al H. war die Abschiebung gescheitert, weil er in der entsprechenden Nacht nicht in seiner Unterkunft angetroffen wurde.
Abgetaucht wegen Dienstreise
Zu ihrem tagelangen Schweigen erklärte die Ministerin, sie sei auf einer Dienstreise in Frankreich gewesen. Diese habe sie aber vorzeitig abgebrochen und schon auf dem Weg das Kabinett "digital" über erste Erkenntnisse ihres Hauses zu dem Anschlag informiert. Auch mit dem Solinger Oberbürgermeister habe sie telefoniert.
Beim mutmaßlich islamistischen Anschlag von Solingen hatte ein Mann am Freitagabend auf einem Stadtfest drei Menschen mit einem Messer getötet und acht weitere verletzt. Mutmaßlicher Täter ist der 26-jährige Syrer Issa Al H., der in Untersuchungshaft sitzt. Die Bundesanwaltschaft ermittelt gegen ihn unter anderem wegen Mordes und wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in der Terrormiliz Islamischer Staat (IS).