Collage zu Kinderpornographie

Sexualisierte Gewalt an Kindern: Was die Polizei geschafft hat – und was noch nicht

Stand: 30.03.2022, 17:23 Uhr

Der "Fall Lügde“ hat die Polizei in NRW wachgerüttelt. Der Innenminister hat das Thema zur "Chefsache“ gemacht. Wo steht die Polizei heute? Eine Bilanz.

Von Arne HellArne Hell

Februar 2019. Der Campingplatz "Eichwald“ in Lügde im Kreis Lippe wird von der Polizei durchsucht. Zum fünften Mal schon. Noch immer finden die Beamten Beweismittel, auch einen USB-Stick.

Danach kommt raus: Ein ganzer Koffer mit CDs ist verschwunden, aus der Dienstelle der Kriminalpolizei in Detmold. Der NRW-Innenminister schickt einen Sonderermittler. Ganz Deutschland fragte sich: Wie kann das passieren? Ausgerechnet bei solchen Ermittlungen: Hundertfacher schwerer sexueller Missbrauch von Kindern.

Auch Reul hat "einen Mentalitätswechsel" vollzogen

"Nicht nur bei der Polizei – in der Gesellschaft war ein Mentalitätswechsel nötig“, zieht Herbert Reul (CDU) jetzt im WDR-Interview Bilanz, "bei mir auch.“ Kein anderes Problem hat der Innenminister in den vergangenen drei Jahren mit solcher Entschlossenheit angepackt wie die Verfolgung sexualisierter Gewalt an Kindern.

Und in kaum einem anderen Bereich war bei der Polizei offensichtlich mehr Veränderung nötig, personell, aber vor allem auch technisch. Denn der größte Teil der Ermittlungsarbeit besteht darin, massenhaft Bilder und Videos auszuwerten. Und so strafbare Darstellungen sexualisierter Gewalt herauszufiltern. Dafür muss dieses Material aber erstmal identifiziert werden.

"Lügde war nicht der Anlass, sondern der Treiber"

"Das was uns Probleme gemacht hat, war das, was wir sicher gestellt haben bei Verdächtigen, auf ihren Rechnern, auf ihren Smartphones, auf Speichermedien“, sagt Sven Schneider. Er leitet im Landeskriminalamt (LKA) in Düsseldorf das "Dezernat 43", das zur zentralen Stelle in NRW im Kampf gegen "Kinderpornographie" geworden ist.

Schneider war Mitglied einer Landesarbeitsgruppe der Polizei zu dem Thema, die vor wenigen Wochen ihre Arbeit beendet hat. Schneider betont, dass es diese Arbeitsgruppe schon vor Lügde gab: "Lügde war nicht der Anlass, sondern der Treiber, der dafür gesorgt hat, dass das Thema in der Öffentlichkeit war.“

Zusammen mit einer "Stabsstelle Kinderpornographie“ im Ministerium hat die Arbeitsgruppe die Veränderungen auf den Weg gebracht. Die meisten davon sind schon umgesetzt oder in Arbeit. Die Wichtigsten im Überblick:

  • Vierfache Steigerung: Deutlich mehr Personal

Statt früher etwa 100 arbeiten jetzt gut 400 Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter in den 47 Polizeibehörden in diesem Bereich. Wie sie diese Vervierfachung hinbekommen, durften sie selbst entscheiden. Bei einer Sitzung mit Behördenleitern im Juni 2019 sicherte Innenminister Reul ihnen Rückendeckung zu: "Ich übernehme die Verantwortung, wenn es vor Ort Stress gibt. Also wenn etwa an Wohnungseinbruch nicht mehr so viele Polizisten arbeiten und die Öffentlichkeit vor Ort die Polizei angreift.“

Allerdings gilt im Bereich "Kinderpornographie“ das Prinzip: Wer sucht, der findet. Darum ist die Zahl der Verfahren in NRW stärker gestiegen als die Zahl der Ermittler: Sie hat sich im Vergleich zu 2019 fast verfünffacht.

  • Missbrauchs-Ermittlungen nur noch in 16 Kriminalhauptstellen

Für "Kindesmissbrauch" sind nur noch die größeren Polizeistellen zuständig, genauso wie etwa bei Mordermittlungen oder Bandenkriminalität. Kleinere Kreispolizeibehörden wie im Kreis Lippe werden entlastet. Reul räumt ein, dass trotzdem in dem Bereich noch nicht ausreichend Kriminalbeamte zur Verfügung stehen: "Wir haben nur eine begrenzte Menge Polizisten. Und erst recht bei der Kriminalpolizei.“

  • Das LKA sortiert und sichtet alle Fotos und Videos

Dabei kommt Software zum Einsatz, die mit Hilfe von künstlicher Intelligenz (KI) die Fotos und Videos identifiziert, auf denen sexuelle Gewalt an Kinder zu sehen sein könnte. Diese Auswahl muss allerdings von Menschen überprüft werden. Das Team, das LKA-Ermittler Schneider dafür zusammengestellt hat, besteht nicht aus Polizisten, sondern aus extra dafür Angestellten: "Das gab es bis dahin in ganz Deutschland noch nicht. Ich hatte die Befürchtung, dass sich da gar keiner bewerben würde. Wer möchte das schon tun?“

Tatsächlich meldeten sich nach Lügde und anderen großen Missbrauchs-Komplexen wie "Bergisch Gladbach“ aber sehr viele Bewerber. Laut Schneider gaben sie oftmals an, dass sie bei dieser Aufgabe gerne Verantwortung übernehmen wollen. Insgesamt arbeiten in seinem Team inzwischen knapp 90 Personen.

  • Arbeit im "digitalen Großraumbüro“

Die Polizistinnen und Polizisten in allen 47 Polizeibehörden in NRW können auf die vorsortieren Fotos und Videos direkt zugreifen, über einen gemeinsamen digitalen Arbeitsplatz. Insgesamt wurden 32 Millionen Euro in neue Technik investiert.

  • Das LKA sichtet auch Hinweise aus den USA und Kanada

Jedes Jahr kommen über das Bundeskriminalamt (BKA) etwa 20.000 Hinweise auf Missbrauchsfotos und –videos aus Nordamerika, die meisten über die Organisation NCMEC aus den USA. Alle Internetanbieter müssen dort verdächtiges Material melden. Die IP-Adressen können das LKA zu Tätern in NRW führen. So ist es auch im Fall "Bergisch Gladbach“ gewesen. Unter den Hinweisen sind auch viele "bekannte“ Fotos und Videos, die bloß weiter verbreitet wurden.

Die Veränderungen bei der Polizei werden auch von der Opposition im NRW-Landtag gelobt. Die Grünen-Abgeordnete Verena Schäffer sagt, Innenminister Reul habe viel getan. Eine Chance habe er allerdings verpasst: "Statt eine zersplitterten Struktur von 47 Polizeibehörden beizubehalten, hätte er sie anpassen können. Weniger Polizeibehörden, die dafür aber alles können.“

Auch der SPD-Abgeordnete Andreas Bialas lobt Reul. Er fordert aber, dass der Schwerpunkt bei der Polizei nicht nur auf Technik liegen dürfe: "Es braucht auch bessere Netzwerkarbeit mit Jugendämtern, es braucht mehr Wissen über Täterstrategien.“ Das gehe nur über bessere Aus- und Fortbildung von Polizistinnen und Polizisten.

LKA schafft nur das Sortieren, noch nicht das Auswerten

LKA-Ermittler Schneider räumt ein, dass es dauere, so viele Beamte in dem Bereich neu zu schulen. Und das ist nicht das Einzige, das bisher nicht zu schaffen gewesen sei.

So gelingt es dem LKA im Moment nicht, das verdächtige Material auch zu bewerten, das bei Durchsuchungen gefunden wird. Dafür sei es zu viel. Diese Arbeit muss weiterhin in den Polizeistellen vor Ort übernommen werden und kostet dort viel Zeit. "Das ist ein mittelfristiges Ziel. Aber da werden wir noch dran arbeiten müssen,“ sagt Schneider.

"Das Thema läuft bei der Polizei nicht nebenbei"

Und noch etwas hat die Polizei in NRW bisher nicht abgeschlossen: Eine Datenbank aufzubauen, die zuverlässig die Fotos herausfiltert, die schon bekannt und sicher als strafbar einzustufen sind. Auch daran arbeitet das LKA noch.

NRW-Innenminister Reul sagt selbst, dass die Entwicklung noch nicht abgeschlossen sei. Er setzt auf verbesserte technische Möglichkeiten. Das Wichtigste sei aber erreicht: "Dass das jetzt ein Top-Thema in der Polizei ist und nicht nebenbei läuft.

Weitere Themen