Kinder beim Essen.

"Runder Tisch": Hoffnung für ehemalige Verschickungskinder

Stand: 31.10.2022, 17:34 Uhr

Sie sollten sich in Ferienheimen erholen - und wurden stattdessen geschlagen, gedemütigt, mit Medikamenten ruhiggestellt: Das Schicksal tausender Verschickungskinder soll jetzt ein "Runder Tisch" aufklären.

Von Nina Magoley

Mutmaßlich tausende Kinder wurden in den Jahrzehnten nach Kriegsende bis 1990 in Kuraufenthalte geschickt - und dort systematisch misshandelt. Bekannt geworden war das bereits vor einigen Jahren. Um die Vorfälle aufzuarbeiten, will die Landesregierung auf Betreiben der SPD nun einen "Runden Tisch Kinderverschickungen" einrichten. Starten soll das Projekt Anfang 2023.

Worum geht es?

In den Nachkriegsjahren gab es bis 1990 für Eltern die Möglichkeit, ihre Kinder während der Schulferien auf organisierte Freizeiten zu schicken - oder auch zwischendurch zur Kur in entsprechende Heime. Ziel waren große, internatsartige Häuser meist in guten Lagen: An der Nord- oder Ostsee, im Schwarzwald, aber auch an Orten in NRW.

Nicht überall, aber offensichtlich in vielen dieser Häuser erging es den Kindern schlecht. So sind Fälle von Misshandlung auf Schloss Heltorf bei Düsseldorf dokumentiert. Auch in Oberkassel bei Bonn gab es mit den Kindersanatorien Haus Ebton und Haus Bernward zwei offenbar berüchtigte Verschickungsheime.

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Mehr als zwei Millionen Kinder wurden so bundesweit "verschickt", 1,8 Millionen allein aus und nach Nordrhein-Westfalen. Finanziert wurden diese "Erholungsaufenthalte" von den Sozialversicherungen.

In einer Studie der Bochumer Forschungsstelle der Sozialversicherungsträger heißt es, dass es Ende 1963 insgesamt 839 Kur-, Heil-, Genesungs- und Erholungsheime für minderjährige Jugendliche mit 56.608 Plätzen in NRW gegeben habe.

Was soll dort geschehen sein?

Schwarzweißaufnahme: Kinder liegen zugedeckt in einer Reihe auf Liegen, unter ihnen eine Schwester als Aufseherin.

Mit Medikamenten ruhig gestellt: Kurkinder

Mittlerweile liegen mehr als 5.000 Augenzeugenberichte darüber vor, dass in vielen dieser Ferienheime Kinder systematisch gequält wurden. "Hundertausende haben in Verschickungsheimen teils schlimme Erfahrungen gemacht", sagt der SPD-Landtagabgeordnete Josef Neumann. "Sie waren Drangsalierungen, Demütigungen, psychischer und physischer Gewalt und teilweise auch sexuellen Übergriffen ausgesetzt."

Im Internet berichten Betroffene über ihre leidvollen Erfahrungen als Kinder, auf Karten sind die Orte und Namen der Heime zu finden.

In der Westpol-Sendung "Eins zu eins" hatte der familienpolitischer Sprecher des SPD, Dennis Maelzer, schon im Juni vergangenen Jahres dazu berichtet: Zunächst sei die Idee dahinter gewesen, Kinder nach dem zweiten Weltkrieg und später "aufzupäppeln". Mangelernährung war zu dieser Zeit ein großes Problem, "aber es scheint letztlich ein großes Geschäftsmodell daraus geworden zu sein, in dem die Interessen der Kinder gar nicht mehr im Mittelpunkt standen".

Was tut die Landesregierung?

Die Landesregierung will dazu nach eigener Aussage mit dem Verein Kinderverschickungen NRW (AKV NRW) zusammenarbeiten. Im Mai startete das "Citizens-Science-Projekt-Kinderverschickung-NRW", das bis 2026 insgesamt 575.000 Euro vom Land bekommen soll.

Citizens-Science bedeutet so viel wie "Bürgerforschung". In diesem Fall sollen sich kommunale und regionale Gruppen im Stil von Selbsthilfegruppen gründen, um Betroffenen einen Ort zum Austausch zu ermöglichen. 

An dem parallel geplanten Runden Tisch sollen "alle relevanten Akteure" beteiligt sein. Neben den Betroffenen gehören dazu auch die Träger der damaligen Verschickungsheime und die Stellen, die die Verschickung organisiert und finanziert haben. Dazu gehören unter anderem auch Caritas und AWO.

Zwar liefen solche Kinderverschickungen über Landesgrenzen hinaus - das zuständige Bundesfamilienministerium habe allerdings eine Unterstützung bei der Aufarbeitung bislang zurückgewiesen, sagt Maelzer. Er appelliere an Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne), zu erkennen, "dass ihre Zurückweisung für die Betroffenen, nun zusätzliches Leid bedeutet". Die Jugend- und Familienministerkonferenz hatte den Bund bereits 2020 aufgefordert, sich an der Aufklärung zu beteiligen.

Wie kam es zu solch systematischer Misshandlung der Ferienkinder?

Die Studie der Bochumer Forschungsstelle der Sozialversicherungsträger erwähnt zum einen die Erziehungsmethoden früherer Zeiten: So hätten beispielsweise noch im Jahr 1965 bis zu 50 der Befragten angegeben, Schläge als gängiges Erziehungsmittel einzusetzen.

Aus der Perspektive der Heimleitung sei die Anwendung von Zwang und Gewalt als "zweckdienlich" betrachtet worden. Für eine erfolgreiche pädagogische Behandlung habe man demnach den individuelle Willen der Kinder zunächst brechen wollen.

Zudem sei ein großer Teil des männlichen Anstaltspersonals noch in der Wehrmacht und Hitlerjugend sozialisiert gewesen, wo alltäglicher Gewalt an der Front, in Kasernen und Lagern zur Wehrerziehung gehörte.

Später seien dann die Jugendämter trotz vereinzelter Meldungen ihrer Verantwortung nicht nachgekommen, Kontrollen in den Heimen habe es kaum gegeben.

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