Kinder als Versuchskaninchen: Studie untersucht Medikamentenmissbrauch in NRW

Stand: 29.01.2023, 09:00 Uhr

In NRW bekamen Kinder in Heimen und Psychiatrien bis in die 70er Jahre missbräuchlich Medikamente - zur Ruhigstellung, aber auch für Tests. Eine Studie soll das ganze Ausmaß offenlegen.

Von Arne Hell und Niklas Schenk

Hier, in ihrem Schaukelstuhl, fühlt sich Petra Westerteicher sicher. Die 66-Jährige wippt unentwegt hin und her, während sie das erste Mal öffentlich erzählt, was ihr in ihrer Kindheit in Heimen und psychiatrischen Einrichtungen in NRW angetan wurde. "Es war die Hölle praktisch für uns alle, schlimmer als ne Hölle", sagt die Düsseldorferin. "Ich hab so viele Schläge bekommen mit Holzlatschen, mit Kleiderbügeln, mit Gürteln. Das können Sie sich gar nicht vorstellen."

Petra Westerteicher

Petra Westerteicher

Petra Westerteicher hat ihre gesamte Kindheit und Jugend in Heimen und psychiatrischen Einrichtungen verbracht, in Düsseldorf, Solingen, Bonn. Direkt nach ihrer Geburt gab ihre Mutter sie ab - was für Westerteicher folgte, war eine Kindheit voller Gewalt. Sie wehrte sich auch gegen das, was ihr angetan wurde.

"Diese Kinder sind aufgegeben worden"

Aber ihre Geschichte geht über die Gewalt hinaus. Petra Westerteicher erhielt Medikamente, wie viele andere Kinder in Heimen in der Nachkriegszeit auch - und zwar nicht aus therapeutischen Gründen. Eine vom Land in Auftrag gegebene Studie soll nun herausfinden, wie schlimm der Medikamentenmissbrauch in den NRW-Einrichtungen zwischen 1946 und 1980 wirklich war.

"Die Kinder, die damals diagnostiziert wurden, werden in einer Welt groß, die diese Kinder wirklich an den Rand der Gesellschaft gedrückt hat. Diese Kinder sind ein bisschen aufgegeben worden", sagt Medizinhistoriker Heiner Fangerau von der Uni Düsseldorf, der die Studie, die jetzt entsteht, verantwortet.

"Wenn diese Kinder Medikamente bekommen haben, die ihnen nicht nützen, die sie auch selber nicht nehmen wollen, in deren Einsatz sie nicht eingewilligt haben, dann ist das in meinen Augen trotzdem ein Arzneimittelmissbrauch, auch wenn diese Kinder in einer klinischen Einrichtung sind."

"Mit dem Medikament hätte man nen Elefanten töten können"

"Irgendwann haben sie mich dann gepackt und dann haben sie mir die Spritzen in den Oberschenkel reingehauen, in den Po. Dann hat hinterher einer gesagt, da hätte ich nen Elefanten mit töten können, was der Arzt gespritzt hat", erinnert sie sich.

1970, mit 14 Jahren, kam Westerteicher in die Psychiatrie des Landeskrankenhauses Düsseldorf, die heutige LVR-Klinik. "Wir waren ja alle schwachsinnig, wurden als hochgradig schwachsinnig eingestuft", sagt Westerteicher. So steht es auch in ihrer Akte, die die Redaktion der WDR Landespolitik einsehen konnte. Jahre später stellte sich die Diagnose als falsch heraus - Petra Westerteicher ist keineswegs gemindert intelligent, wie es der damals in Düsseldorf verantwortliche Leiter der Psychiatrie, Dr. Krebs. diagnostizierte.

R16341: Sie erhielt ein noch nicht zugelassenes Medikament

Westerteicher erhielt Medikamente zur Ruhigstellung. Besonders krass: Darunter auch das 1971 noch lange nicht zugelassene Medikament Penfluridol. In ihrer Akte ist es nur mit dem Kürzel "R16341" vermerkt, 40 Milligramm pro Woche. "Dieses Kürzel R16341 ist ein typischer Hinweis auf Medikamente, die noch nicht auf dem Markt waren", erklärt die Pharmaziehistorikerin Sylvia Wagner, die im Team der Uni Düsseldorf an der Studie mitarbeitet.

Medikamentenmissbrauch in NRW-Kinderheimen

Medikamentenmissbrauch in NRW-Kinderheimen

Tatsächlich kam Penfluridol erst 1975 für Psychosepatienten auf den Markt, vier Jahre nach den Versuchen im Landeskrankenhaus Düsseldorf. Das bestätigt auch der Hersteller des Medikaments, die Firma Janssen aus Neuss. Die Situation in Kinder- und Jugendheimen der 50er, 60er und 70er Jahre mache "uns bei Janssen sehr betroffen", schreibt das Unternehmen auf Anfrage. Und: "Sowohl die rechtlichen Rahmenbedingungen als auch das ethische Empfinden waren damals anders ausgeprägt als heute."

Versuche erst ab 1978 verboten - aber Strafgesetzbuch galt schon

Tatsächlich trat ein ausdrückliches Verbot von Arzneimittelversuchen an Kindern erst 1978 in Kraft, nachdem das Gesetz 1976 geändert worden war. Darauf berufen sich viele Pharmaunternehmen noch heute. Und das, obwohl schon der Nürnberger Kodex kurz nach der NS-Zeit verlangte, dass es eine freiwillige Einwilligung der an Versuchen beteiligten Menschen gibt. Die Deklaration von Helsinki vom Weltärztebund 1964 forderte einen "direkten Nutzen für die Versuchspersonen" und die Zustimmung der Eltern an Versuchen. Beide medizinethischen Grundsätze hatten aber keinen rechtsverbindlichen Charakter.

Das Strafgesetzbuch galt aber auch schon in den 60er Jahren - danach war ein medizinischer Eingriff ohne Zustimmung der Beteiligten schon damals eine Körperverletzung. Diese Unterscheidungen zu machen und trotzdem möglichst klar Verantwortliche zu benennen, dürfte eine der Herausforderungen der Studie werden.

Viele Freiräume für Arzneimittelproduzenten

"Es gab sehr viele Freiräume für Arzneimittelproduzenten und das Fehlen von Gesetzen oder der rechtliche Rahmen, der sehr durchlässig war, das gehörte zur Politik der Förderung der Arzneimittelindustrie des Standorts Deutschlands", sagt Medizinhistoriker Prof. Heiner Fangerau.

Seine Studie sei nötig, "damit es eben nicht weiter heißen kann: 'Ja gut, das war ja nur diese Einrichtung. Okay, diese war auch noch dabei, aber mehr gibt es dann auch nicht.' Diesem Eindruck wollen wir mit der Studie entgegentreten".

Kamen die Nebenwirkungen vom Medikament?

Petra Westerteicher fragt sich nun, ob ihre Beschwerden aus der Zeit in Düsseldorf Nebenwirkungen des Medikamentes waren: "Ich konnte nicht laufen, die Knochen taten weh, der Sabber ist aus dem Mund gelaufen." Pharmaziehistorikerin Sylvia Wagner sagt: "Das können alles Nebenwirkungen des Präparats gewesen sein, das sind typische Nebenwirkungen, auch dass man Krämpfe hat eventuell."

Medikamentenmissbrauch in NRW-Kinderheimen

Medikamentenmissbrauch in NRW-Kinderheimen

Der Einnahme des Medikaments hat Westerteicher nie zugestimmt, auch ihre Mutter nicht. So steht es in ihrer Akte. Petra Westerteicher ist körperlich schwer behindert, kann kaum laufen. Nachzuweisen, ob das an der Gewalt in den Heimen liegt oder Auswirkung des Medikamentenmissbrauchs ist, ist mehr als 50 Jahre danach vor allem juristisch schwer.

Klage auf Anerkennung eines Opferstatus

Aktuell klagt Westerteicher auf Opferentschädigung gegen den LVR, der wiederum von ihr klare Nachweise für die behaupteten Gewalttaten fordert. Westerteicher sucht deshalb noch nach Zeugen für ihre Schilderungen - vor allem nach einem Kaspar Müller, mit dem sie in den Heimen zeitweise zusammenlebte.

Klar ist, dass Petra Westerteicher kein Einzelfall war. Das Franz-Sales-Haus aus Essen hat Fälle von Medikamentenmissbrauch schon aufgearbeitet, auch in Viersen-Süchteln, Bethel-Bielefeld oder in Bonn kam es nachgewiesenermaßen zu Medikamententests und Medikamentenmissbrauch an Kindern und Jugendlichen. Auch der LVR hat den Medikamentenmissbrauch in einigen seiner Einrichtungen aufgearbeitet.

Laumann: "Dunkles Kapitel unserer Geschichte aufklären"

Mitte 2024 soll die Studie im Auftrag des Landes NRW vorliegen, die Sozialminister Laumann mit 430.000 Euro finanziert. "Die bisher vorliegenden Forschungsergebnisse und Erlebnisberichte damaliger Opfer belegen in vielen Fällen, dass Kindern und Jugendlichen unsachgemäß und missbräuchlich Medikamente verabreicht wurden. Dieses dunkle Kapitel unserer Landesgeschichte muss aufgeklärt werden. Das sind wir den Betroffenen schuldig", sagte Laumann im Sommer 2022 bei der Vorstellung des Studienprojekts. Das Land NRW möchte auch seine eigene Rolle prüfen – und denkt auch über mögliche Entschädigungen für die Betroffenen nach.

Deshalb werden nun Archive und Zeitschriften durchforstet, auf der Suche nach weiteren Beweisen. Bald soll auch ein Zeitzeugen-Portal eröffnet werden, über das sich weitere Betroffene melden können.

Petra Westerteicher gründete später selbst eine Familie

Petra Westerteichers Leben änderte sich, als sie mit 17 Jahren in eine Pflegefamilie kam. Sie leidet zwar auch heute noch immer unter den Folgen ihrer Zeit in Kinder- und Jugendheimen, aber bekam selbst zwei Kinder. "Ich habe eine Familie, auf die ich stolz bin. Meine Töchter helfen mir jetzt noch im Haushalt", sagt Westerteicher. "Ich finde es auch gut, dass an die Öffentlichkeit kommt, was mir passiert ist. Ich bin ja nicht die Einzige, es ist ja mehreren Leuten passiert."