Ein Klassenraum des Alice-Salomon-Berufskollegs in Bochum. Für Sebastian Dreyer und seine Mitschüler geht es an diesem Tag um das Thema Elternarbeit. Sie machen eine Ausbildung zum Erzieher und zur Erzieherinnen und sind aktuell für Praktika in den Kitas. Gerade geht es um das Thema "Tür- und Angel-Gespräche" mit Eltern, also die Frage, wie Erzieher in der Kita mögliche Probleme mit den Eltern am besten besprechen.
"Die Ausbildung ist schon sehr anspruchsvoll, man muss auf jeden Fall Durchhaltevermögen haben", erzählt Sebastian. Seit August läuft seine Ausbildung zum staatlich anerkannten Erzieher - das ist noch immer der klassische Ausbildungsweg für die meisten. Die Ausbildung dauert insgesamt drei Jahre, Gehalt gibt es in den ersten zwei Jahren keines. Sebastian und viele seiner Mitschüler jobben nebenbei oder beziehen Bafög, auf das sie aber oft lange warten müssen.
Kinderpfleger-Ausbildung: Fast die Hälfte hat abgebrochen
Ein paar ihrer Mitschüler haben die Ausbildung schon abgebrochen, aber längst nicht so viele wie bei der Kinderpfleger-Ausbildung, die Sebastian vorher schon gemacht hat. "Da haben viele einfach gemerkt, dass die Arbeit mit Kindern vielleicht doch nichts für sie ist", sagt Sebastian. "Da waren wir am Ende der Ausbildung vielleicht noch die Hälfte."
Ira Lieber betreut die angehenden Erzieher an der Schule. Sie spricht von im Schnitt zehn Prozent Abbrecherquote am Alice-Salomon-Berufskolleg. Dass einige die Ausbildung nicht packen, kann sie verstehen, vor allem wenn kein Gehalt gezahlt wird. "Das hat etwas mit Wertschätzung zu tun. Die Arbeit mit unseren Kindern sollte es uns einfach wert sein, dass die Ausbildung vergütet wird. Es werden einem einfach Steine in den Weg gelegt, das finde ich ungerecht."
"Hohe Schwundquote"
Zwar gibt es in NRW inzwischen die praxis-integrierte Ausbildung, bei der Azubis von Anfang an bezahlt werden. Aber die setzt sich erst langsam durch. Deutlich mehr als die Hälfte geht den alten Weg und das hat offensichtlich Folgen.
Eine genaue Zahl, wie viele angehende Erzieher und Erzieherinnen in NRW die Ausbildung abbrechen, gibt es nicht. Im Fachkräftebarometer Frühe Bildung 2021 aber steht: "Die Absolventenzahlen in der Kinderpflege und Sozialassistenz liegen insgesamt auf einem deutlich niedrigeren Niveau als die Anfängerzahlen, was auf hohe Schwundquoten hindeutet."
Hohe Schwundquoten - was heißt das genau? Rechnet man die Zahlen der Anfänger und Absolventen vom Fachkräftebarometer gegen, kommt man auf eine Abbruchquote von 19 Prozent. Eine Zahl, die Fachverbände auf Nachfrage des WDR-Magagins Westpol für realistisch halten.
Azubizahlen steigen, aber der Personalmangel ist trotzdem groß
Es gibt zahlreiche Probleme in der Kita-Ausbildung - obwohl viele junge Erwachsene einen Job als Erzieherin laut Umfragen attraktiv finden. Gut 9.000 angehende Erzieherinnen und Erzieher gibt es aktuell in NRW, die Zahl steigt seit Jahren. Und doch reichen die neuen Fachkräfte bei weitem nicht aus. Um den Rechtsanspruch für alle Kinder, deren Eltern einen Betreuungsbedarf haben, erfüllen zu können, bräuchte NRW laut Bertelsmann-Stiftung in diesem Jahr 25.000 neue Fachkräfte bzw. gut 100.000 Kitaplätze. Kosten: Mehr als eine Milliarde Euro.
Paul startet Sofortprogramm und will mehr über Abbrecher wissen
Familien- und Kinderministerin Josefine Paul von den Grünen hat das Problem erkannt und gerade erst ein Sofortprogramm Kita des Landes auf den Weg gebracht. Sie will mehr Ausbildungsplätze schaffen und Quereinsteiger in die Kitas holen. Vor allem aber geht es ihr auch darum, mehr über die Situation an den Kitas in NRW zu erfahren. Dem Land fehlen valide Daten darüber, warum so viele Fachkräfte fehlen und einige die Ausbildung abbrechen.
"Wir wollen uns anschauen, wieso es eine Dropout-Quote gibt", sagt Paul. Also eine Quote derer, die aus der Ausbildung rausfallen. "Und wir wollen wissen, warum nicht alle im System Kita münden, die Erzieherinnen-Ausbildung abgeschlossen haben. Das ist für andere Systeme in der Jugendhilfe sicher gut, weil wir überall Bedarf nach Fachkräften haben. Aber wir müssen uns das anschauen und werden erstmals ein Monitoring auflegen."
Viele machen eine Ausbildung, arbeiten dann aber nicht in der Kita
Denn das ist das nächste Problem: Laut Fachkräftebarometer Frühe Bildung 2021 werden nur "zwei Drittel derer, die eine Ausbildung durchlaufen, später auch tatsächlich in der frühen Bildung tätig". Viele arbeiten in der Jugendhilfe oder studieren noch - Fachkräfte in den Kitas fehlen so weiterhin.
Die Probleme sind also vielschichtig. Und es kommt noch ein weiteres, ganz praktisches Problem dazu. Um Fachkräfte auszubilden, braucht man Lehrkräfte - die fehlen aber an vielen Berufskollegs.
Weiteres Problem: Es fehlen Lehrer, die die Azubis ausbilden
"Wir können nicht alle Bewerber aufnehmen, die eine Ausbildung machen wollen, weil die Lehrkräfte gar nicht auf dem Markt sind", sagt Timo Engbring, stellvertretender Schulleiter am Alice-Salomon-Berufskolleg. Überall in den Kitas fehlen Fachkräfte - und er muss mögliche Interessenten ablehnen, da ihm Lehrer fehlen. Das liegt auch daran, dass das Studium für Lehramt Berufskolleg Sozialpädagogik weitestgehend unbekannt ist, sagt der Verband der Lehrerinnen und Lehrer an den Berufskollegs in NRW (VLBS).
Zunächst konnte man das nur an der TU Dortmund studieren. Inzwischen wurden auch Studienplätze in Wuppertal und Paderborn eingerichtet. Doch das müsste vom Land mehr beworben werden, so der VLBS. Denn in Wuppertal zum Beispiel sind aktuell nur 14 Studierende im Master, 10 Plätze sind frei geblieben.
Bertelsmann Stiftung: Ausbildungsplätze reichen bei weitem nicht
"Der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz lässt sich in NRW auch 2023 nicht für jedes Kind erfüllen": Zu diesem Fazit kommt die Bertelsmann Stiftung. Die Kinder, die einen Kitaplatz haben, würden zudem meist in zu großen Gruppen von zu wenigen Erzieherinnen betreut.
Um das zu ändern, bräuchte NRW viel mehr Fachkräfte. Umso wichtiger ist eine gute Ausbildung. 53.000 neue Azubis dürften bis 2030 in den Job eintreten bei den bestehenden Ausbildungskapazitäten in NRW, sagt die Stiftung. Nötig seien allerdings mehr als 60.000 Fachkräfte zusätzlich. "Insofern müsste bis 2030 das Personalangebot mehr als verdoppelt werden, aber das ist nicht realistisch."