Das Fischen von Lebensmitteln aus Müllcontainern von Supermärkten ist so weit verbreitet, dass es schon seit Jahren ein Wort dafür gibt: Containern. Es steht sogar im Duden und wird definiert als "weggeworfene, noch genießbare Lebensmittel zum Eigenverbrauch aus dem Abfallcontainer (eines Supermarktes) holen".
Doch genau das ist strafbar in Deutschland. Lebensmittel-Retter, die in Container tauchen, laufen stets Gefahr, vor Gericht zu landen.
Bundesländer sollen für Straffreiheit sorgen
Das wollen Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) und Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) nun ändern. Sie wollen dafür aber nicht das Strafrecht ändern, sondern wählen eine Hintertür, die von den Ländern aufgemacht werden müsste.
In einem gemeinsamen Schreiben an die Justizministerinnen und -minister werben Buschmann und Özdemir am Dienstag dafür, einen Vorschlag des Landes Hamburg zu unterstützen. Dieser sieht eine Änderung der "Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren" (RiStBV) vor. Den Gerichten soll quasi von den Landesjustizministerinnen und -ministern vorgeschrieben werden, Verfahren wegen des Diebstahls von Lebensmitteln aus Abfallcontainern einzustellen.
Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir betonte in Berlin: "Wer Lebensmittel vor der Tonne rettet, sollte dafür nicht weiter strafrechtlich verfolgt werden."
Justizminister Limbach will Vorstoß der Bundesregierung prüfen
NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) will sich noch nicht festlegen. Den Vorschlag für die Justizministerkonferenz werde man prüfen und "nicht sofort ja oder nein sagen." Er betonte aber auch im Gespräch mit dem WDR: "Wir sind uns im Ziel einig, keine Lebensmittel zu verschwenden."
Klarer positioniert sich die Landespartei der Grünen. Ihr Co-Vorsitzender Tim Achtermeyer begrüßte die Initiative von Özdemir und Buschmann. Lebensmittel zu retten sei ehrenwert und dürfe nicht kriminalisiert werden. "Wir müssen alle Möglichkeiten nutzen, um zu verhindern, dass Lebensmittel weggeworfen werden", eine davon sei Containern, erklärte Achtermeyer.
Aber auch der Landesvorsitzende verwies auf die komplexe juristische Materie und dass nun eine Diskussion in der Landespolitik geführt werden müsse.
CDU setzt lieber auf freiwillige Lebensmittel-Spenden
Klarer Gegenwind kommt vom Koalitionspartner der Grünen in NRW, der CDU. Landwirtschaftsministerin Silke Gorißen (CDU) kritisiert gegenüber dem WDR zwar: "Nach wie vor ist die Menge der Lebensmittel, die im Handel und der Außer-Haus-Verpflegung, aber auch im privaten Bereich, entsorgt wird, deutlich zu hoch." Aber als Lösung schlug sie vor: "Unser Hauptaugenmerk beim Thema Lebensmittelverluste sollte darauf liegen, dass Lebensmittel erst gar nicht im Müll landen, wenn sie noch für den Verzehr geeignet sind."
Ähnlich äußerte sich auch der Sprecher für Arbeit, Gesundheit und Soziales der CDU-Fraktion, Marco Schmitz. Er lehnt den Vorschlag der Bundesminister ab. Dem WDR sagte Schmitz: "Es kann nicht sein, dass Menschen für ihre Lebensmittel im Müll suchen müssen."
Zudem wisse man nicht, was sonst noch in den Containern sei. Die Lebensmittel könnten verschmutzt oder kontaminiert sein und eine Gesundheitsgefahr darstellen. Stattdessen sollten die Supermärkte auf freiwilliger Basis die Lebensmittel spenden und die Tafeln gestärkt werden. Damit könnten bedürftige Personen besser versorgt werden.
Die FDP-Fraktion stärkt Buschmann
Die Liberalen im NRW-Landtag stehen hinter dem Vorstoß des Bundesjustizministers. Marcel Hafke, Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion, sagte: "Essen aus Abfallcontainern und Mülltonnen zu entnehmen, sollte straffrei sein. Wir begrüßen die Initiative von Marco Buschmann und Cem Özdemir zum Containern."
Der Lösungsvorschlag stelle Rechtssicherheit her, sei praxisorientiert und helfe Bedürftigen. "Kommt es zu keiner Sachbeschädigung und keinem Hausfriedensbruch, ist Containern vertretbar. Damit können mehr Lebensmittel genutzt werden und enden nicht auf der Müllkippe", argumentiert Hafke. Zudem könnten sich die Gerichte dann "auf ihre Kernaufgaben konzentrieren".
SPD: Strafrecht nur im äußersten Fall einsetzen
Sonja Bongers, rechtspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Landtag NRW beklagt, die Kriminalisierung des Containerns "entbehrt jeder Verhältnismäßigkeit". Zumal es um Menschen gehe, die ein nachvollziehbares Anliegen haben und womöglich sogar aus eigener finanzieller Not handeln.
Sie schlägt vor: "Das Strafrecht soll nach dem Ultima-Ratio-Prinzip zum Einsatz kommen, wenn es als letztes Mittel zur Herstellung von Rechtsfrieden unbedingt erforderlich ist." Der sei aber wohl nicht gefährdet, wenn Menschen Lebensmittel aus leicht zugänglichen Containern entnähmen. "Sachbeschädigung oder andere Delikte darf es dabei freilich nicht geben", stellt Bongers klar.
Die juristische Debatte
Ob das Containern strafbar ist, hat in den letzten Jahren immer wieder Gerichte in Deutschland beschäftigt, bis hin zum Bundesverfassungsgericht. Das hatte im August 2020 festgestellt, dass der Gesetzgeber grundsätzlich auch das Eigentum an wirtschaftlich wertlosen Sachen strafrechtlich schützen darf.
Auch die Justizministerkonferenz der Länder hatte das Thema schon auf der Tagesordnung. 2019 hatte Hamburg bereits versucht, das Containern straffrei zu stellen, scheiterte jedoch damit.
Strafrechtlich geht es meist um Diebstahl, Hausfriedensbruch, wenn beispielsweise über Zäune geklettert wird, und Sachbeschädigung, falls verschlossene Container aufgebrochen werden. Besonders strittig ist dabei der Vorwurf des Diebstahls. Denn offenkundig hatten die bisherigen Eigentümer kein Interesse mehr an den Lebensmitteln, sonst wären sie nicht im Müll gelandet.
Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung dürften weiter verfolgt werden
Der aktuell diskutierte Vorschlag für die Justizministerkonferenz sieht vor, dass nur noch der Hausfriedensbruch und die Sachbeschädigung strafrechtlich verfolgt werden sollen, aber nicht der Diebstahl.
Die Frage nach dem Eigentumsrecht bei wertlosen Dingen ist eine komplexe juristische Frage. Und das nicht nur in Deutschland, wie eine Auswertung des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages zeigt. Er verglich im April 2022 die Strafbarkeit des Containerns in Deutschland, Frankreich, Niederlande und Schweden. Demnach ist auch in den anderen Ländern die Rechtslage kompliziert.
Lebensmittelverschwendung in Deutschland
2020 fielen nach Angaben des Statistischen Bundesamts rund 11 Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle in Deutschland an. Privatpersonen werfen laut Bundeslandwirtschaftsministerium im Schnitt 78 Kilogramm pro Jahr weg. Das seien 59 Prozent der Lebensmittelabfälle.
Im Handel entstünden sieben Prozent der Lebensmittelabfälle. Die Gründe für das Entsorgen seien unansehnlich gewordene Lebensmittel, Überschreitungen des Haltbarkeitsdatums oder zu große Bestellmengen, die nicht vollständig verkauft werden.
Mülltaucher – Essen aus der Tonne
Planet Wissen. 02.02.2022. 04:27 Min.. UT. Verfügbar bis 20.12.2024. WDR.