Missbrauchskomplex Wermelskirchen: NRW-Datenschutzbeauftragte warnt vor "Totalüberwachung"

Stand: 07.06.2022, 16:46 Uhr

Innenminister Reul will zur Bekämpfung von Pädokriminalität den Datenschutz lockern. Die NRW-Datenschutzbeauftragte Gayk warnt im WDR-Interview vor den Folgen für alle und zeigt Alternativen auf.

"Es muss sich in dem Recht der Datenspeicherung etwas ändern" - das fordert NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) mit Blick auf die Ermittlungen im Tatkomplex Wermelskirchen. Dazu haben wir die Datenschutzbeauftragte des Landes NRW, Bettina Gayk, befragt.

WDR: Herbert Reul, der Kinderschutzbund, die beiden Polizeigewerkschaften – sie alle fordern eine Lockerung des Datenschutzes, um besser gegen Pädokriminalität vorzugehen. Teilen Sie diese Einschätzung?

Bettina Gayk: Ich habe da größere Bedenken. Ich finde, dass das Problem ein bisschen bagatellisiert wird, wenn man von Kindesmissbrauch auf der einen und Datenschutz auf der anderen Seite redet. Worum es Herrn Reul geht, ist ja das Speichern von IP-Adressen auf Vorrat für lange Zeit. Das ist eigentlich eine Totalüberwachung von allen Menschen, die im Internet aktiv sind. Das ist schon ein gravierender Einschnitt und der kann nur gerechtfertigt sein, wenn er absolut notwendig ist und aufs Mindestmaß zurückgeschraubt würde. Da habe ich schon große Bedenken.

WDR: Vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) ist die Frage anhängig, wie weit die anlasslose Vorratsdatenspeicherung – beispielsweise von IP-Adressen - in der EU gehen darf. Bis dies geklärt ist: Welche Möglichkeiten gibt es in Deutschland? Reichen die aus?

Gayk: Es ist so, dass alle Telekommunikationsunternehmen IP-Adressen für einen kurzen Zeitraum speichern, in der Regel sieben Tage lang. Auf diese Daten hat man bei einem Anlass jetzt schon Zugriff, wenn das von einem Richter oder einer Richterin angeordnet wird. Vor dem Europäischen Gerichtshof sind verschiedene Regelungen der Mitgliedsstaaten schon wiederholt auf dem Prüfstand gewesen.

Bisher hat der EuGH sich dahingehend geäußert, dass es nur bei gravierenden Angriffen auf die staatlichen Gemeinwesen überhaupt zulässig ist, über einen längeren Zeitraum und dann auch nur zeitlich begrenzt, solche Daten zu speichern. Das ist eine sehr, sehr gravierende Überwachung. Problematisch ist hier auch: Wenn gegen eine Person ermittelt wird und dann deren Kontakte aufgearbeitet werden, dann sind natürlich auch solche mit nicht-kriminellen Personen dabei. Die geraten aber dann in einen Ermittlungsfokus, ohne dass sie überhaupt einen Anlass dazu gegeben haben.

WDR: Die aktuelle Speicherfrist von sieben Tagen, die Sie gerade angesprochen haben, greift im Tatkomplex Wermelskirchen zu kurz.

Gayk: Es wundert mich schon ein bisschen, dass Herr Reul diese Taten zum Anlass nimmt, wieder mal die Vorratsdatenspeicherung zu fordern. Denn in dem Fall haben wir es mit einem mutmaßlichen Täter zu tun, der akribisch Buch geführt hat über alle seine Kontaktpersonen. Und Herr Reul hat im zweiten Schritt gesagt, dass der mutmaßliche Täter möglicherweise schon früher hätte entdeckt werden können. Aber leider habe der Schweizer Anbieter die IP-Adresse nicht herausgeben. Gesetze für die Schweiz können wir hier in Deutschland aber nicht machen.

Also dieser Fall gibt jetzt nicht ganz deutlich den Anlass dafür, das neu zu sehen. Natürlich ist Kindesmissbrauch eine gravierende Straftat, die auch verfolgt werden muss. Man muss aber auch sehen, es ist ein sehr emotionales Delikt, es öffnet natürlich auch die Türen für die Verwendung für andere Straftaten. Es ist nach meiner Erfahrung nicht vorstellbar, dass der Kindesmissbrauch der einzige Anlass bleiben wird, der die Nutzung dieser Vorratsdaten veranlasst.

WDR: Verstehe ich Sie richtig, dass Sie meinen, dass das hochemotionale Thema gerade benutzt wird, um die Vorratsdatenspeicherung auch für andere Bereiche durchzusetzen?

Gayk: Also ich würde nicht von Benutzen sprechen. Aber es gibt die Erfahrung, dass solche großen Vorhaben wie Vorratsdatenspeicherung nicht umgesetzt werden nur für ein Delikt. Es wird andere Delikte geben, die auch schwer sind und auch mit diesen Daten aufgeklärt werden können. Dann stellt sich die Frage der Grenze: Wie gravierend müssen die Delikte sein, damit der Zugriff auf diese Daten erlaubt werden kann.

WDR: Welche Alternativen sind denkbar?

Gayk: Das, was die Rechtssprechung des EuGH bislang andeutet, ist: Wenn es denn einen Anlass gibt, also wenn es konkrete Verdachtsmomente gegen bestimmte Personen gibt, dass dann möglicherweise deren Kommunikation mit anderen eingefroren, also aufgezeichnet werden kann, auch länger als sieben Tage. Das ist die sogenannte Quick-Freeze-Variante. Die haben Datenschützer als Möglichkeit schon seit langem immer wieder vorgeschlagen, wenn man zur Kriminalitätsbekämpfung Kommunikationsdaten längerfristig speichern will.

WDR: Gerade wird ein Gesetzentwurf der schwedischen EU-Kommissarin Ylva Johansson diskutiert. Der sieht vor, dass Internet-Unternehmen verpflichtet werden können, private Nachrichten nach illegalen Missbrauchsbildern zu durchleuchten. Halten Sie das für sinnvoll?

Gayk: Auch das halte ich für ausgesprochen problematisch. Denn auch hier sind ja offensichtlich alle Internetnutzerinnen und –nutzer betroffen, die unter Generalverdacht gestellt werden. Und noch viel schlimmer: Hier werden private Unternehmen beauftragt, deren Daten zu durchsuchen. Mit der Schwierigkeit, dass sie vor der Frage stehen: Ist das jetzt wirklich ein krimineller Inhalt oder habe ich jetzt nur ein Urlaubsbild rausgefiltert, auf dem die Kinder eine Badehose tragen, aber viel Haut zu sehen ist?

Im Grunde gibt es dann kein Telekommunikationsgeheimnis mehr, keine Privatsphäre im Netz. Am Ende ist dann alles offen – zumindest für die Unternehmen, die diese Dienste anbieten.

WDR: Wenn Herr Reul Änderungen im Datenschutz wünscht, kann die Landesregierung irgendwas in der Richtung ausrichten?

Gayk: Nein, nicht unmittelbar, bei diesem konkreten Vorhaben, das ihn bewegt, dass er an IP-Adressen nicht rankommt, geht es um die klassische Frage der Vorratsdatenspeicherung. Das ist Telekommunikationsrecht, hier liegt die Gesetzgebung beim Bund.

WDR: Herbert Reul fordert "intelligente Lösungen“, um weitergehende Ermittlungen und Datenschutz miteinander zu vereinbaren. Sie haben als Datenschutzbeauftragte eine große Expertise. Vor einer Woche sagten Sie im WDR5-Morgenecho, bislang habe Herr Reul sich noch nicht mit Ihnen in Verbindung gesetzt. Hat er in der Zwischenzeit mit Ihnen nach Lösungen gesucht?

Gayk: Nein, ich hatte auch in der Zwischenzeit keinen Kontakt mit Herrn Reul. Ich denke, er weiß, dass er mich jederzeit anrufen kann, wenn er meine Beratung sucht.

Das Interview führte Sabine Tenta.

Weitere Themen