Silvester am Kölner Hbf, Innenminister Ralf Jäger, Justitia

100 Tage nach den Silvester-Übergriffen von Köln: Was hat sich getan?

Stand: 09.04.2016, 06:00 Uhr

Eine Silvesternacht löst ein Beben aus. Die hundertfachen Übergriffe auf Frauen in Köln schockieren weltweit, haben politische und rechtliche Folgen. Fragen und Antworten 100 Tage danach.

Wie ist der Stand der Ermittlungen?

Laut einem Bericht des NRW-Innenministeriums hat die Kölner "Ermittlungsgruppe Neujahr" bis Ende März 1.527 Straftaten mit 1.218 Opfern erfasst - etwa die Hälfte von ihnen wurden Opfer von Sexualdelikten. 185 von 529 Opfer zeigten gleichzeitig mit der Sexualstraftat auch ein Diebstahlsdelikt an. Dazu wurden durch die Polizei bislang 153 Tatverdächtige ermittelt, darunter 149 Ausländer - viele von ihnen Asylbewerber und Migranten mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus. Die meisten stammen aus Marokko und Algerien. Bei der Staatsanwaltschaft Köln waren bis zum Donnerstag (07.04.2016) 1.157 Strafanzeigen eingegangen. Von 130 Beschuldigten säßen 14 in Untersuchungshaft.

Wie ist der Stand der Gerichtsverfahren?

Bislang wurden vor dem Kölner Amtsgericht vier Fälle mit Vorwürfen aus der Silvesternacht verhandelt. Es ging jeweils um Diebstahlsdelikte, wie ein Gerichtssprecher auf WDR-Anfrage mitteilte. Die Beschuldigten erhielten Geld- und Bewährungsstrafen. Derzeit liegen dem Amtsgericht weitere sechs Anklagen vor, die zum Teil terminiert sind, zum Teil noch nicht. Die entsprechenden Gerichtstermine finden vom 12. bis 22. April statt. Eine Auswahl der Anklagepunkte: Diebstahl mit Waffen, Verstoß gegen das Waffengesetz und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, räuberischer Diebstahl, unerlaubter Besitz von Betäubungsmitteln. Ende März 2016 hatte die Staatsanwaltschaft auch einen ersten Verdächtigen wegen sexueller Nötigung angeklagt. Der 26-Jährige soll zusammen mit etwa zehn anderen Männern eine Frau in der Vorhalle des Hauptbahnhofs umzingelt und begrapscht haben. Der Gerichtstermin steht noch nicht fest.

Welche landespolitischen Konsequenzen hatten die Übergriffe der Silvesternacht?

Hannelore Kraft und Ralf Jäger diskutieren im NRW-Landtag

Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und Innenminister Ralf Jäger im NRW-Landtag

Innenminister Ralf Jäger (SPD) steht seit Köln schwer politisch unter Druck. Die Opposition legte ihm den Rücktritt nahe, was Jäger ablehnt. Der Minister tauschte stattdessen den Kölner Polizeipräsidenten aus. Der Landtag setzte einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss ein, um Versäumnisse des Ministeriums und anderer Behörden aufzuklären. Erst am Donnerstag musste sich Jäger zusätzlich im Innenausschuss wehren. Der Minister wies den Vorwurf der Vertuschung oder Manipulation im Zusammenhang mit der Kölner Silvesternacht scharf zurück. Er wehrte sich gegen den Eindruck, aus seinem Ministerium sei verlangt worden, die schweren Übergriffe auf Frauen zu verharmlosen. Wegen Köln verhandelt die rot-grüne Koalition derzeit über Maßnahmen zur Verbesserung der Inneren Sicherheit. Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) hatte bereits angekündigt, dass die Videoüberwachung in NRW-Großstädten ausgeweitet wird. Zudem sollen mehr Polizisten an Kriminalitätsbrennpunkten eingesetzt werden. Auch Kraft hatte nach Köln Kritik einstecken müssen. Tagelang schwieg sie, das Bild der "Kümmerin" bekam Kratzer.

Welche bundespolitischen Konsequenzen gibt es?

Auch die Bundespolitik reagierte alarmiert: Am 17. März traten Regelungen zur schnelleren Abschiebung krimineller Ausländer in Kraft. Dies ist eine Reaktion auf Übergriffe auf Frauen in der Silvesternacht in Köln und anderen Städten. Die CDU/CSU-SPD-Bundesregierung brachte Mitte März zudem ein Gesetz auf den Weg, mit dem sexuelle Übergriffe künftig leichter als Vergewaltigung geahndet werden können. Demnach soll der Tatbestand der Vergewaltigung bereits dann erfüllt sein, wenn das Opfer mündlich seine Zustimmung zum Sex verweigert, ohne körperlichen Widerstand zu leisten. Die Opposition kritisierte die Vorlage als ungenügend.

Welche gesellschaftlichen Folgen hat die Nacht von Köln?

Navid Kermani

Navid Kermani

Seit Köln hat sich vieles geändert. Vor allem in den ersten Wochen war die öffentliche Debatte teils geprägt von Hysterie und Panikmache. Rechtsextremisten versuchten, das Ereignis politisch zu instrumentalisieren. Es gab auch mahnende, besonnene Stimmen: "Wir leben in einem fragilen Gleichgewicht, wenn dann Terroranschläge oder Dinge wie an Silvester geschehen, erzeugt das Ängste", analysierte der Kölner Schriftsteller Navid Kermani in einem "Spiegel"-Interview. "Und nun diskutieren wir über den arabischen Mann als solchen. Das geht mir total auf den Senkel, dieser Kulturalismus und teilweise auch Rassismus, den plötzlich jeder glaubt, öffentlich ausleben zu dürfen."

Was ist noch ungeklärt?

Der Einsatzleiter der Landespolizei Günter Reintges sitzt vor Beginn der Sitzung des Untersuchungsausschusses "Silvesternacht"  im NRW-Landtag

Der Einsatzleiter der Landespolizei Günter Reintges Mitte März vor Beginn der Sitzung des Untersuchungsausschusses "Silvesternacht" im NRW-Landtag

Besonders bei den Sitzungen des Untersuchungsausschusses im Landtag wird deutlich, welches Chaos in der Kölner Silvesternacht herrschte. Das Abstimmungs-Wirrwarr zwischen Stadt Köln, Bundes- und Landespolizei verschärfte offenbar die Sicherheitslage in der Tatnacht rund um den Hauptbahnhof. Bei ihrer getrennten Befragung durch die Abgeordneten machten die Einsatzleiter von Bundes- und Landespolizei teils widersprüchliche Angaben - zum Beispiel zur Zahl der Personen auf dem Bahnhofsvorplatz. Ungeklärt ist nach wie vor, ob sich vor der Tatnacht größere Personengruppen gezielt verabredet haben, um an Silvester in Köln Frauen zu umzingeln, sexuell zu bedrängen und zu bestehlen. Auffällig ist, dass im Internet nur relativ wenige Videos und Fotos aus der Silvesternacht aufgetaucht sind.

Was sind die Folgen für Köln?

Das Image von Köln hat - nach dem Archiveinsturz von 2009 mit zwei Toten - erneut gelitten. "Wir haben uns unmittelbar bemüht, dem durch schnelles und entschiedenes Handeln in Sachen Sicherheit und nachhaltige Maßnahmen entgegenzuwirken", sagte Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos) vor wenigen Tagen der dpa. "Das hat dazu beigetragen, Vertrauen zurückzugewinnen." Die Kölner Rathauschefin hatte kurz nach Silvester besonders in den sozialen Medien viel Kritik ausgelöst, als sie sagte, Frauen könnten zu Fremden besser eine gewisse Distanz, eine "Armlänge" Abstand einhalten. Reker räumte später ein, dass sie auf diese Aussage besser verzichtet hätte. Die Stadt Köln will ihr angekratzes Image mit einer Kampagne aufpolieren.