Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, hält eine Rede vor Anhängern in Istanbul.

Politikwissenschaftler Çopur zur Stichwahl: "Erdoğan startet von der Pole-Position"

Stand: 20.05.2023, 10:00 Uhr

Türkische Staatsbürger, die bei der Türkei-Wahl für Amtsinhaber Erdoğan und die AKP sind, leben in einer Informationsblase, sagt Politikwissenschaftler Burak Çopur im WDR-Interview.

In der Türkei muss Präsident Erdoğan in die Stichwahl und tritt gegen Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu an. Ab heute und bis zum 24. Mai können in NRW etwa 500.000 Menschen mit türkischem Pass noch einmal ihre Stimme abgeben und wählen. Professor Dr. Burak Çopur ist Dozent am Institut für Turkistik an der Universität Duisburg-Essen. Er forscht zu Fragen der Migration und Integration der türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland. Seit April leitet er auch das neu gegründete Zentrum für Radikalisierungsforschung und Prävention an der IU Internationalen Hochschule in Essen. Im Interview spricht er über Chancen, Beeinflussung von Wählern und die Sehnsucht der Menschen nach einem Wir-Gefühl.

WDR: Herr Çopur, beide Kandidaten waren im ersten Wahlgang ohne Mehrheit - aber auch nicht so weit voneinander entfernt. Wie glauben Sie, wirkt sich das auf die Wähler und Wählerinnen hier in Deutschland aus?

Burak Çopur: Präsident Erdoğan ist ja quasi im ersten Wahlgang der stärkste Kandidat geworden und startet hier von einer Pole-Position. Er wird seinen Amtsbonus nutzen, um auch die AKP-Wählerinnen und -Wähler in Deutschland massiv zu mobilisieren. Im Moment sieht es ja so aus, dass es kein Kopf-an-Kopf-Rennen mehr ist, sondern Präsident Erdoğan hier die Nase vorn hat und auch davon auszugehen ist, dass auch die AKP-Wählerinnen und -Wähler in Deutschland sich wieder für Präsident Erdoğan aussprechen werden.

WDR: Das heißt, Sie gehen davon aus, dass Erdoğan diese Stichwahl für sich gewinnen kann?

Burak Çopur

Politikwisschenschaftler Burak Çopur

Burak Çopur: Das ist jetzt ein Blick in die Kugel. Ich gehe davon aus, dass Kemal Kılıçdaroğlu es im zweiten Wahlgang, das heißt in der Stichwahl, es deutlich schwerer haben wird, weil Präsident Erdoğan von der Pole-Position startet. Er ist immerhin knapp unter 50 Prozent. Es fehlen ihm im zweiten Wahlgang nicht mehr so viele Stimmen, um tatsächlich die Wahl für sich zu entscheiden.

WDR: Wie wichtig ist die Wahlempfehlung des unterlegenen dritten Kandidaten, also des Chefs der Ultranationalisten, für die Wähler und Wählerinnen hier in Deutschland?

Burak Çopur: Sie wird wichtig sein, aber nicht zentral. Denn die Wählerinnen und Wähler von dem Präsidentschaftskandidaten Sinan Oğan sind keine homogene Gruppe. Das heißt, selbst wenn er eine Wahlempfehlung ausspricht pro Kemal Kılıçdaroğlu, nehmen wir mal an, ist es noch nicht ausgemacht, dass tatsächlich auch die Wählerinnen und Wähler diesem Votum folgen werden.

WDR: Haben Sie den Eindruck, dass zur Stichwahl die Türkinnen und Türken in Deutschland noch mal richtig motiviert sind? Oder ist für sie die Wahl irgendwie schon gelaufen?

Burak Çopur: Meine Einschätzung ist, dass die AKP-Anhängerinnen und Anhänger hier in Deutschland wieder massiv mobilisiert werden und sich auch an der Wahl beteiligen werden, um letztlich jetzt auch dem Ganzen ein Ende zu setzen und Präsident Erdoğan zum Sieger zu küren. Ob allerdings die Anhängerinnen und Anhänger der türkischen Opposition genauso motiviert sind, das ist eine große Frage und noch nicht ausgemacht.

WDR: Wenn Erdoğan die Stichwahl gewinnen würde. Wie würde es dann Ihrer Einschätzung nach in der Türkei weitergehen?

Burak Çopur: Die innertürkischen Konflikte werden vermutlich weiter angeheizt werden. Es wird zu keiner Lösung der Kurdenfrage kommen. Es bleiben viele Baustellen offen, aber auch die wirtschaftliche Lage wird sich unter Präsident Erdoğan nicht verbessern. Wir können davon ausgehen, dass auch die außenpolitischen Konflikte mit Blick auf Griechenland, Zypern und andere Nachbarländer sich weiter verschärfen wird. Also mit Präsident Erdoğan wird es keine Ruhe geben. Und es wird auch kein Zurück zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geben.

WDR: Die Menschen mit türkischem Pass, die ja hier in Deutschland leben, die leben ja auch in einem EU-Land, also in Europa. Spielt das irgendeine Rolle? Ist das attraktiv für diese Wähler und Wählerinnen?

Burak Çopur: Das spielt insofern eine Rolle, als dass die Annehmlichkeiten Sicherheit, Wohlstand, Rechts- und Sozialstaat natürlich auch für AKP-Anhängerinnen und -Anhänger besonders wertvoll sind. Allerdings leben diese Menschen in ihrer Informationsblase. Sie werden durch die AKP-Propaganda aus Ankara natürlich massiv beeinflusst. Hinzu kommen natürlich Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen dieser Bevölkerung. Und Präsident Erdoğan versucht natürlich, diesen Menschen dann auch einen Halt und Stabilität zu geben und sie aus der Fremde abzuholen und ihn ein Wir-Gefühl zu geben.

WDR: Deutschland ändert ja gerade das Staatsbürgerschaftsrecht. Eine Einbürgerung wird erleichtert, eine doppelte Staatsbürgerschaft soll einfacher möglich sein. Könnte das langfristig Einfluss auf die Türken und Türkinnen in Deutschland haben - auch in Sachen Wahlverhalten, wenn man auch mehr sich mit dem deutschen Staat und mit deutschen Wahlen und Regierung auseinandersetzt?

Burak Çopur: Jedes Integrationsangebot ist wichtig, auch für die Partizipation und Teilhaberecht der Türkeistämmigen hier in Deutschland. Es bedarf darüber hinaus mehr Ansätze der politischen Bildung, aber auch in der sozialen Arbeit, der Elternarbeit, der Schulsozialarbeit - und nicht zu vergessen: Die Radikalisierung von jungen Menschen findet auch in den Netzwerken statt. Und man muss auch die Menschen dort abholen, wo sie sind, nämlich im Netz. Und sie versuchen dort auch zu gewinnen und aus diesen Verschwörungstheorien herauszukriegen.

Das Interview führte Andrea Oster im WDR 5 Morgenecho.

Türkei-Wahl: Wie Erdogan in Deutschland um Stimmen kämpft I nah dran

nah dran – die Geschichte hinter der Nachricht 21.04.2023 21:34 Min. Verfügbar bis 21.04.2028 WDR Online


Download

Weitere Themen