Ein Teller mit Suppe wird überreicht

MEINUNG

Soziale Pflichtzeit für das WIR-Gefühl

Stand: 12.11.2022, 06:00 Uhr

Soziales Engagement nützt nicht nur den Armen und Schwachen. Es schafft ein WIR-Gefühl und stärkt den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Deswegen sollte jeder dazu beitragen, meint Caro Wißing.

Von Caro Wißing

Seit Wochen gehe ich immer wieder auf diese eine Internetseite - ein lokaler Verein, der sich ehrenamtlich breit engagiert für Menschen im Viertel. Ich scrolle nach unten, wo so viele spannende Projekte und Hilfsangebote aufgelistet sind. Und jedes Mal die gleiche Spirale in meinem Kopf: "Oh wow, das ist ja eine tolle Initiative! Hm, aber die wollen bestimmt, dass man sich da jede Woche engagiert. Habe ich die Zeit dafür? Müsste ich mir halt nehmen. Ich überlege mir das mal." Und dann klicke ich die Seite wieder weg.

Das Thema Ehrenamt und soziales Engagement treibt mich jetzt schon länger um. Aber so einen richtigen Drang verspüre ich, seit ich für eine Recherche vor einigen Wochen bei einem Mittagstisch für Bedürftige war. Ich hatte mich drauf eingestellt, dort Leute zu treffen, die kaum Geld haben, um über die Runden zu kommen. Ich hatte mir traurige Gesichter vorgestellt, eine getrübte Stimmung. Als ich ankomme, höre ich schon draußen lautes Lachen. Drinnen ist es wuselig, einige sitzen um einen großen Tisch, unterhalten sich, immer wieder kommen Leute rein. Man begrüßt, man kennt sich. An einem überdimensionierten Suppentopf steht eine kleine quirlige Frau mit grauen Haaren und füllt einen Teller nach dem anderen mit Linsensuppe. Aha, denke ich, eine der Organisatorinnen dieses Mittagstisches. Ich komme mit ihr ins Gespräch und merke dann: Sie ist eine der Bedürftigen. Aber ab und zu helfe sie selbst beim Kochen hier aus. Das tue ihr gut. Die Organisatorin, das sei die, die da hinten mit dem Teller Linsensuppe am Tisch sitzt.

Raus aus der eigenen Bubble

Mir wird klar: Hier gibt es nicht diese Grenze, die ich vorher in meinem Kopf gezogen hatte. Es ist einfach ein Begegnungsort, an dem Menschen aus ganz unterschiedlichen Lebensrealitäten zusammentreffen. Sie reden auf Augenhöhe, sie machen etwas gemeinsam. Und jeder/jedem Einzelnen kann ich ansehen, wie viel ihnen das gibt. Das finde ich wahnsinnig toll. Wo habe ich in meinem Alltag solche Berührungspunkte mit Menschen, die eine ganz andere ökonomische Situation haben, ganz anders aufgewachsen sind, andere Ansichten haben? Meine Familie, meine Freunde, mein Arbeitsumfeld: eine ziemlich gleichförmige "Bubble".

"Nun leben wir in dieser Gesellschaft, die sich verändert hat in den letzten Jahrzehnten, häufig in unseren Lebenswelten und in unseren Milieus und viel nebeneinanderher. Und deshalb brauchen wir Bewegungsmöglichkeiten, wo wir uns über die Lebenswelten, über die Generationen hinweg begegnen." Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

Der Bundespräsident sagt, es sei dringend nötig, Brücken zu bauen über gesellschaftliche Gräben. Ansonsten würden diese Gräben immer tiefer, unsere Gesellschaft drifte auseinander. Im Juni hat er deswegen erstmals eine soziale Pflichtzeit vorgeschlagen. Und prompt kam der Shitstorm. Auch ich hatte zuerst den Reflex: Ernsthaft?! Ein Zivi 2.0? Junge Menschen sollen gezwungen werden, nach der Schule ein Jahr soziale Arbeit zu leisten? Das ist nicht fair, zumal die Jugend durch Corona schon so viel verpasst hat.

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Aber man muss sich den Vorschlag von Steinmeier genauer anschauen. "Ich habe es bewusst nicht nur für Jugendliche vorgeschlagen und ich habe auch nicht gesagt ein Jahr. Sondern jeder sollte einmal im Leben etwas tun für andere Menschen, die ihm fremd sind." So hat er es jetzt in einem Interview ausgeführt. Und da muss ich sagen: Ja, da gehe ich mit!

Lebenslanges Engagement oder ein Jahr nach der Schule?

Wie könnte so eine Pflichtzeit also aussehen? Ich könnte mir vorstellen, dass jeder Bürger und jede Bürgerin eine Art Ehrenamts-Zeitkonto hat. Darauf steht ein Soll von 1.840 Stunden. Das entspricht etwa einem Jahr Fünf-Tage-Woche mit acht Stunden Arbeitszeit pro Tag. Ab dem 16. Lebensjahr hat man die Pflicht, diese Stunden abzuleisten. Das kann dann so aussehen, dass man tatsächlich ein Jahr am Stück nach der Schule in einen Freiwilligendienst geht. Oder aber man teilt sich das freier ein. Es gibt Menschen, die sich von der Jugend an bis weit ins Erwachsenenalter etwa in ihrem Sportverein als Trainer engagieren. Da also zwei bis drei Stunden pro Woche investieren. Die erfüllen über einen langen Zeitraum ihr Soll. Es würde auch die Möglichkeit geben, phasenweise ein Ehrenamt auszuüben, je nachdem wie es gerade in die eigene Lebensplanung passt. Zum Beispiel eine Zeit lang neben dem Studium Hausaufgabenhilfe für benachteiligte Schülerinnen und Schüler geben. Dann während der ersten Berufsjahre eine Pause einlegen, weil man durchstarten möchte. Später wieder mit einem anderen Ehrenamt einsteigen, bis die eigenen Kinder zu betreuen sind. Und dann vielleicht in dem Seniorenheim, wo die eigenen Eltern untergebracht sind, kleine Hilfsjobs ausführen. Und so weiter…

Eine Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt: Die Mehrheit (64 Prozent) der Bevölkerung befürwortet die Einführung einer solchen flexibel gestaltbaren, altersunabhängigen Pflichtzeit. Mehr als die Hälfte der Deutschen ist bereits ehrenamtlich engagiert (53 Prozent). Sie hätten also gar keine Schwierigkeit, ihr Ehrenamts-Zeitkonto auf Null zu bringen. Und selbst wenn es nicht zu einer sozialen Pflichtzeit kommt: Viele wollen gern etwas tun - so wie ich - aber finden nicht so recht den Einstieg.

Im Ausland: Anreize für ehrenamtliche Tätigkeit

Können wir uns vielleicht etwas abgucken in anderen Ländern? In den USA ist ehrenamtliches, soziales Engagement sehr weit verbreitet. Schülerinnen und Schüler lernen schon von klein auf, sich zu engagieren. Bei College-Bewerbungen oder bei der Jobsuche hat jemand nur Erfolg, wenn auf dem Lebenslauf ehrenamtliche Tätigkeiten aufgelistet sind. Zugegeben: Manchmal ist es das einmalige Aushelfen in einer Suppenküche an Thanksgiving, das bereits als Engagement ausgegeben wird. Aber immerhin wird auf solche Social Skills viel Wert gelegt.

Auch in den Niederlanden hat das Ehrenamt einen hohen Stellenwert. Bereits in der Schule steht das auf dem Lehrplan. Kinder und Jugendliche müssen sich ein Engagement suchen. Diese gelernte Erfahrung trägt sich dann oft ins Erwachsenenleben weiter. Der niederländische Staat sorgt außerdem für Anreize: Steuererleichterungen, freier Eintritt bei kulturellen Veranstaltungen und Festivals usw. Und auch immer mehr Unternehmen sind bereit, ihre Angestellten für das Ehrenamt freizustellen.

Solche Anreize wären mit Sicherheit auch in Deutschland sinnvoll. Bei großen international tätigen Unternehmen gehört "Corporate Social Responsibility" schon zur Imagepflege - andere können sich da etwas abgucken. Zumal Unternehmen angesichts des Fachkräftemangels um Bewerber buhlen müssen. Da wäre es doch klug, potentiellen Angestellten neben Geld und anderen Benefits auch Freistellung für ehrenamtliche Tätigkeit zu bieten. Der Generation Z, die sowieso auf mehr Work-Life-Balance schaut, kommt das bestimmt entgegen.

Ehrenamtliche sind kein Ersatz für Fachpersonal

Auch der Staat kann noch mehr tun, um den Bürgerinnen und Bürgern den Einstieg ins Ehrenamt zu erleichtern. Das zeigt auch die Studie der Bertelsmannstiftung. Viele Befragte fänden es gut, wenn Ehrenamtszeiten auf die Rente angerechnet werden. Steuererleichterungen wären auch für viele attraktiv. Schulabgängerinnen und -abgänger könnten mit verkürzten Wartesemestern fürs Studium gelockt werden. Wer sich außerdem für mehrere Monate zu einem Dienst verpflichtet, sollte eine faire Vergütung bekommen, damit nicht nur besser situierte Menschen diese Option haben. Und es muss auch klar gesetzlich geregelt sein, dass Ehrenamtliche kein Ersatz sind für ausgebildetes Personal in sozialen, pädagogischen oder medizinischen Einrichtungen.

Die Bedingungen für Arbeitskräfte in der Pflege zum Beispiel müssen sich bessern, damit mehr Menschen den Beruf wählen und ihn auch bis zur Rente ausführen können. Aber durch freiwillige soziale Dienste in solchen Einrichtungen bekommen vielleicht auch mehr Menschen einen Eindruck von dieser eigentlich doch sehr schönen, erfüllenden Tätigkeit und entscheiden sich im besten Fall sogar selbst einzusteigen.

Genau das ist ja wieder der Kern des Ganzen: eine neue Perspektive bekommen. Die Welt mit den Augen eines anderen sehen. Ein WIR-Gefühl entwickeln, statt sich abzugrenzen. Ich hab Bock drauf!

Und Sie? Sind Sie auch Feuer und Flamme für das Ehrenamt? Könnten Sie sich eine soziale Pflichtzeit vorstellen? Oder halten Sie das alles für nicht umsetzbar und unfair? Lassen Sie uns diskutieren! Hier in den Kommentaren oder auf Social Media.

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