NRW-Gesundheitsämter am Limit: "Da geht man psychisch kaputt"

Stand: 22.10.2020, 20:12 Uhr

Die Zahl der Corona-Infektionen steigt in NRW weiter. Und damit auch die Belastung bei den Gesundheitsämtern. Eine WDR-Recherche zeigt: Teilweise können Kontakte von Infizierten nicht mehr zeitnah nachverfolgt werden.

Von Kathrin Kühn und Victoria Just

"Also wir haben es immer wieder, dass wir merken, wir sind jetzt an der Belastungsgrenze angelangt." Für Anjali Scholten ist es seit einiger Zeit eine tägliche Aufgabe: Mangelverwaltung. Sie leitet das Gesundheitsamt Hagen, Risikogebiet. Noch sei die Lage im Griff, dank guter Teamarbeit und auch dank der Bundeswehr, die vor Ort bei der Kontaktverfolgung nachhilft, also das Ermitteln möglicher weiterer Infizierter.

"System der Kontaktverfolgung kollabiert"

Aber das ist längst nicht überall so, wie eine WDR-Recherche bei den NRW-Gesundheitsämtern zeigt. Zwei Mitarbeiterinnen, die auch aus Angst um ihren Job anonym bleiben wollen, lassen uns hinter die Kulissen schauen. So erzählt Martina F. (Name geändert): "Wenn ich zehn Kontakte angerufen habe, liegen 40 neue in meinem Fach. Und das geht den ganzen Tag so. Ich habe im Moment das Gefühl, dass dieses System der Kontaktverfolgung kollabiert."

Mitarbeiter berichten anonym - ganze Sportmannschaft nicht gewarnt

Ein Grund: Noch nicht alle Gesundheitsämter in NRW organisieren die Kontaktverfolgung digital. Teils wird vieles noch per Papier erledigt, also per Fax oder Akte. Die Folge: Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen haben nicht gleichzeitig Zugriff auf die Fälle, berichtet Martina F.: "Wir rufen manchmal Leute dreimal an, weil sie mehrfach gemeldet werden und das System fehlt. Und auf der anderen Seite ist da eine Sportmannschaft, die gar nicht angerufen wird und lustig in Urlaub fährt, weil wir sie nicht rechtzeitig über den Kontakt oder die Quarantäne informiert haben."

Ähnliches erzählt Gesundheitsamtsmitarbeiterin Sandra M. (Name ebenfalls geändert): "Wenn das so weitergeht, können wir nicht nur die Kontakte nicht mehr verfolgen, sondern dann auch die Infektionsketten nicht mehr aufhalten."

Ministerium: Keine Erkenntnisse, wo analoge Übermittlung

Das NRW-Gesundheitsministerium erklärt auf WDR-Anfrage, dass dort keine Erkenntnisse vorliegen, bei wie vielen Ämtern das der Fall sei. Es sei bei der Kontaktverfolgung insgesamt von einer Vielzahl von Lösungen auszugehen: "Da die Gesundheitsämter vor Ort und je nach Bedarf entscheiden können, welche Software sie für die Kontaktpersonennachverfolgung einsetzen.“

WDR-Recherchen bestätigen das. Teils wird eine Software des Robert-Koch-Instituts eingesetzt, teils gibt es auch selbst programmierte Systeme und teils eben auch noch Papier. Ein einheitliches System für NRW ist aktuell also noch nicht absehbar. Das Gesundheitsministerium verspricht aber, dass ein möglichst einheitliches System mit Schnittstellen zum Corona-Meldesystem das erklärte Ziel sei. Zeitpunkt: offen.

"Bei uns sind schon Leute umgekippt"

Für Gesundheitsamts-Mitarbeiter wie Sandra M. ist das ein Versprechen, dem sie nur schwer glauben kann. Sie wirft der Politik vor, verschlafen zu haben: "Wir kriegen keine Hilfe. Obwohl wir quasi darum betteln, dass endlich was passiert. Deswegen gehen die Leute psychisch und physisch kaputt, bei uns sind auch schon Leute umgekippt."

Virologe Christian Drosten sagt, dass die gezielte Eindämmung von Clustern, also Ansteckungen etwa in der Sportmannschaft, wichtiger sein könnte als das Auffinden von Einzelfällen. Er plädiert dafür, im Fall der Überlastung von Gesundheitsämtern nur (oder zumindest vor allem) dann "mit behördlichen Maßnahmen auf einen positiven Test zu reagieren, wenn er von einem möglichen Clustermitglied stammt", man sich also mutmaßlich in einer Gruppen-Situation angesteckt hat.

Gesundheitsminister: "Haben das im Griff"

Am Donnerstag äußerte sich auch NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) zur Lage in den Ämtern. Die erlebten zwar gerade einen "Stresstest", sagte Laumann im WDR-Interview, aber bei einer Abfrage des Ministeriums hätte "keines gesagt, wir kriegen es nicht mehr hin". Folglich breche auch die Nachverfolgung nicht zusammen. "Wir haben das nach wie vor im Griff, mit viel Aufwand", sagte der Minister und wehrte sich gegen die Kritik: "Ich habe überhaupt nichts verschlafen."

Laumann kündigte an, 1.000 zusätzliche Leute in die Gesundheitsämter schicken. Zudem wolle sein Ministerium Geld zur Verfügung stellen, damit die lokalen Ämter weiteres Personal einstellen können. "Die Kontakt-Nachverfolgung ist zurzeit mit die wichtigste Baustelle, da muss die Handlungsfähigkeit unbedingt erhalten bleiben", sagte der Minister.

Laumann erwartet "sehr schwierige Monate"

Gleichzeit warnte Laumann, dass "wir sehr schwierige Monate vor uns haben". Doch die seien zu meistern, wenn die Bevölkerung diszipliniert sei und ihre persönlichen Kontakte einschränke. Zudem müsse es die Politik schaffen, "die Regeln so zu erklären, dass sie nachvollziehbar und verständlich" sind.

Der Minister wies auch darauf hin, dass das aktuelle Ansteckungsgeschehen noch aus der Zeit vor den verschärften Regeln komme. Laumann erwartet, dass man frühestens zehn Tage nach den Neuregelungen die Auswirkungen sehen wird.