Die Erzählung klingt bekannt: Laut Aserbaidschans Verteidigungsminister ist der militärische Großangriff in der Region Bergkarabach lediglich eine "Antiterroroperation lokalen Charakters". Stellen vor Ort melden hingegen Tote und Verletzte unter der dortigen Zivilbevölkerung, die zum allergrößten Teil aus Armeniern besteht. Und auch die deutsche Regierung ist sich einig, wie die Lage zu sehen ist. "Aserbaidschan muss den Beschuss sofort einstellen und an den Verhandlungstisch zurückkehren", forderte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne).
Die armenische Community in NRW ist groß, alleine in Köln wohnen circa 5.000 Armenierinnen und Armenier. Und dort stehen viele unter Schock und haben Angst um ihre Freunde und Verwandten, die in Bergkarabach leben. "Die Verbindung nach Bergkarabach ist schlecht, es gibt kaum Informationen", sagt WDR-Reporter Marspet Movsisyan. "Viele reisen deshalb nach Armenien, um näher dran zu sein und von dort aus eventuell Kontakt herstellen zu können."
Es herrscht Angst um Verwandte und Freunde in der Heimat. Karina ist zum Beispiel erst vorgestern aus Armenien zurückgekommen nach Gütersloh. Als sie von dem Angriff gehört hat, ist sie in Tränen ausgebrochen und hat sofort ihre Großmutter in Armenien angerufen. "Sie hat von dort aus jeden Verwandten angerufen. Aber mit jedem Anruf ist die Verzweiflung noch mehr gestiegen, weil niemand den Anruf abgenommen hat", erzählte Karina dem WDR. Von einigen wissen sie mittlerweile, dass sie in Schutzräumen sind, von anderen haben sie immer noch nichts gehört.
Konflikt flammt seit Jahrzehnten immer wieder auf
Bergkarabach ist seit Jahrzehnten umkämpft, der Konflikt zwischen den beiden Kaukasusrepubliken Armenien und Aserbaidschan schwelt seit dem Zerfall der Sowjetunion. Die Bergregion, die etwa 4.500 Quadratkilometer groß ist, gehört zum Staatsgebiet Aserbaidschans, wird aber größtenteils von Armeniern bewohnt. Beobachter beschreiben die Lage dort als katastrophal. Es fehlt demnach etwa an Lebensmitteln und Medikamenten. Seit Mittwoch wird Brot nur noch gegen Bezugsscheine ausgegeben. Aserbaidschaner blockieren seit Monaten den Latschin-Korridor, der Armeniens einziger Zugang zur Region ist.
Überrachend kam der jetzige Angriff nicht. Weder für die Menschen vor Ort, noch für Experten wie Stefan Meister. Er leitet das Zentrum für Ordnung und Governance in Osteuropa, Russland und Zentralasien bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. "Aserbaidschan hat sich militärisch vorbereitet, und man weiß dort, dass der Westen nicht ernsthaft reagieren wird", sagte er am Mittwoch dem WDR.
"Warum unternimmt keiner etwas?" Armenier sind verzweifelt
Auch die Armenier in NRW haben mit dem Schlimmsten gerechnet - und sind laut WDR-Reporterin Marianna Deinyan wütend und enttäuscht über die Passivität der internationalen Gemeinschaft. "Warum unternimmt denn keiner etwas?" sei eine Frage, die sich die Armenier derzeit oft stellten. Ein Gefühl der Hilflosigkeit mache sich breit. Stefan Meister nimmt ebenfalls "ein großes Desinteresse im Westen" wahr, wo man allenfalls zu "Lippenbekenntnissen" in der Lage sei.
Als Ursache für die jetzige Situation bewerten viele Beobachter die veränderten Interessen Russlands. "Russland hat über Jahrzehnte versucht, den Konflikt zwischen den Konfliktparteien in einer Balance zu halten, um ihn für sich zu nutzen", sagt Meister. Durch den Ukraine-Krieg brauche Russland aber jetzt den Nord-Süd-Korridor über Aserbaidschan nach Iran in Richtung Indien. "Es geht um Geopolitik und um geoökonomische Interessen. Die haben sich verschoben - zu Ungunsten Armeniens."
Aserbaidschan als Partner für den Westen immer wichtiger
Dazu kommt: Seit Beginn des Ukrainekrieges ist Aserbaidschan immer wichtiger für den Westen geworden. Das Land, das zwischen Kaukasus und Kaspischem Meer liegt, verfügt über große Reserven an Öl und Gas und konnte seine Rohstoffexporte ins Ausland zuletzt beträchtlich steigern. Olaf Scholz bezeichnete das Land im März 2023 bei einem Besuch des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew als "Partner von wachsender Bedeutung". Aserbaidschan gilt jedoch als autoritäres Regime, das große Probleme mit Korruption hat.
"Es droht ein Genozid"
Zerstörtes Haus in Bergkarabach
Die Aussichten für die Armenier in der Region sind düster, glaubt Kaukasus-Experte Meister: "Wenn Russland Aserbaidschan weiter freie Hand lässt, geht es um das physische Überleben der Karabach-Armenier. Wer nicht flieht, hat keine Überlebenschance, fürchte ich. Das wahrscheinlichste Szenario lautet dann Vertreibung oder Vernichtung. Alles, was dort armenisch ist, wird dem Erdboden gleichgemacht werden, bis zur letzten Kirche." Auch Jonathan Spangenberg, Vorsitzender des Zentralrats der Armenier, sagte in einer Videobotschaft auf Facebook: "In Bergkarabach droht ein Genozid."
Sanktionen und Peacekeeping-Maßnahmen gefordert
Aber wie ließe sich das verhindern? Meister sieht den Westen in der Pflicht: "Man müsste mit Peacekeeping-Missionen dort reingehen. Man müsste Sanktionsmechanismen für Aserbaidschan aufbauen, den Druck erhöhen und bereit sein, Russlands Rolle in der Region zu ersetzen." Dass dies wirklich passiert, hält er aber eher für unwahrscheinlich.
Armenier in Deutschland: Demos und Öffentlichkeitsarbeit
Etwas mehr Hoffnung haben die Armenier, die in Deutschland und NRW leben. Sie organisieren und vernetzen sich und sind bemüht, das Thema in die breite Öffentlichkeit zu bringen. So hat der Zentralrat der Armenier am kommenden Samstag zu einer Kundgebung vor dem Bundeskanzleramt aufgerufen. Und am 1. Oktober ist in Brüssel eine "paneuropäische Demonstration" geplant, die laut eigenen Angaben von über 500 Organisationen unterstützt wird. Es soll Mitfahrgelegenheiten und Busse aus Dortmund, Duisburg, Köln und Aachen geben.
Über dieses Thema berichten wir im WDR am 20.09.2023 auch im Hörfunk: 1Live, 17.40 Uhr.