Steffen Gödecke fährt mit seinem Elektro-Rollstuhl am Bahnhof an einem Gleis

Neuer ICE L: Kann die Bahn auch barrierefrei?

Stand: 15.09.2022, 12:25 Uhr

Die Bahn hat einen ersten ICE-Zug mit stufenlosem Ein- und Ausstieg vorgestellt. Menschen mit Rollstuhl können damit erstmals ohne fremde Hilfe Fernzüge nutzen. Reicht das?

Ab Herbst 2024 sollen die ersten neuen ICE L der Deutschen Bahn im Linienverkehr fahren. Am Mittwoch stellte das Unternehmen die weitgehend barrierefreien Züge vor. Insgesamt hat die Bahn beim spanischen Hersteller Talgo 23 Exemplare der modernen Niederflurbahn bestellt. Bis 2027 sollen sie vor allem auf Strecken zum Einsatz kommen, die für den Tourismus interessant sind.

Wird das Reisen für Menschen mit Behinderung jetzt leichter? Wie sieht es aktuell aus mit der Barrierefreiheit im Bahnverkehr? Fragen und Antworten.

Was genau bietet der neue ICE für Kunden mit Behinderung?

Präsentation des neuen barrierefreien ICE

Präsentation des ICE L

Die wichtigste Verbesserung ist schon im Modellnamen ICE L enthalten: "L" steht für Low Floor, also für einen Niederflurwagen, der ohne Stufen am Ein- und Ausstieg auskommt. Das ist vor allem für Reisende interessant, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Bisher müssen Rollstuhlfahrer und -fahrerinnen ihre Reise rechtzeitig bei der Bahn anmelden, damit ein Servicemitarbeiter zur Stelle ist und ihnen per Hubwagen beim Ein- und Ausstieg hilft. Mit dem neuen ICE L wären also theoretisch auch Spontanreisen möglich - ohne fremde Hilfe.

Allerdings ist auch in den neuen Schnellzügen die Zahl der Rollstuhl-Plätze auf drei begrenzt - eine Reservierung ist also auch künftig meistens notwendig. Außerdem gibt es in den Zügen nur jeweils eine barrierefreie Toilette.

Der neue barrierefreie ICE mit Rollstuhlplätzen im Abteil

Rollstuh-Plätze im ICE L

Schließlich wird der neue Zug in den kommenden Jahren nur auf wenigen Strecken eingesetzt: Ab Oktober 2024 sollen erste ICE L zwischen Berlin und Amsterdam fahren. Ab Juni 2025 soll der moderne Zug alle Verbindungen auf dieser Linie bedienen. Ab 2026 soll der ICE L auch auf den touristischen Verbindungen nach Sylt und nach Oberstdorf eingesetzt werden. Für den Großteil der Fernverbindungen der Deutschen Bahn ist also eine barrierefreie Option noch Zukunftsmusik.

Ist das jetzt der Startschuss für Barrierefreiheit im Bahnverkehr?

Jein. Zwar verspricht die Bahn, dass irgendwann der stufenlose Ein- und Ausstieg Standard sein wird. Aber wann es soweit ist, das weiß noch keiner. Erst im Februar 2022 hatte die Bahn mitgeteilt, dass sie 43 neue Fernzüge des Typs ICE 3neo bestellt hat, nach einer Order von 30 Stück im Vorjahr. Auch der ICE 3neo wurde von der Bahn mit dem Slogan "Mehr Barrierefreiheit" beworben - für den Einstieg müssen aber auch hier Stufen überwunden werden.

Der Inklusionsaktivist Constantin Grosch hatte eine einfache Rechnung aufgestellt: Beim ICE 3neo seien bei einer Gesamtanzahl von 440 Sitzplätzen lediglich zwei Rollstuhlplätze eingeplant, so Grosch. Das stehe in keinem Verhältnis zum prozentualen Anteil behinderter Menschen an der Gesamtbevölkerung.

Die Bahn betont: Für die insgesamt 73 bestellten ICE 3neo, von denen die ersten Züge Ende des Jahres in Betrieb gehen, wurde der Lift neu konstruiert und weiter verbessert. Michael Peterson, Bahn-Vorstand Personenfernverkehr, sagte, der stufenlose Zutritt solle bei künftigen Ausschreibungen Standard werden.

Wie gut ist die Bahn schon jetzt auf Reisende mit Rollstuhl eingestellt?

Es geht so. Bereits seit 2002 gibt es zwar das Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (BGG). Darin wurde festgelegt, dass die Bahn verpflichtet ist, "Programme zur Gestaltung von Bahnanlagen und Fahrzeugen zu erstellen, mit dem Ziel, eine möglichst weitreichende Barrierefreiheit für deren Nutzung zu erreichen". Tatsächlich hat sich seitdem das Angebot für Menschen mit Behinderungen verbessert - von echter Barrierefreiheit kann aber noch nicht die Rede sein.

Menschen mit Rollstuhl sind im Fernverkehr nach wie vor auf die Hilfe von Bahnmitarbeitern und Hubwagen angewiesen, wenn sie in einen ICE einsteigen wollen. Zudem sollte eine Mitfahrt mit Rollstuhl spätestens um 20 Uhr am Vortag beim Mobilitätsservice der Bahn angemeldet werden, wie die Bahn schreibt. Auch dann ist Reisen für Rollstuhlfahrer, die Hilfe brauchen, nicht immer möglich, sondern nur von 6 Uhr morgens bis 22 Uhr abends. An kleineren Stationen liegen die von der Bahn genannten "Servicezeiten" nur zwischen 8 Uhr morgens bis 20 Uhr.

Auf WDR-Anfrage antwortete die Bahn, dass das Servicepersonal 2021 an mehr als 300 Bahnhöfen und in den Zügen der DB rund 637.000 Hilfeleistungen für mobilitätseingeschränkte Menschen geleistet habe. Das seien rund 1.700 Hilfeleistungen pro Tag. 2022 seien deutschlandweit rund 1,8 Milliarden Euro investiert worden, um Bahnhöfe neu zu bauen oder - immer auch mit Blick auf die Verbesserung der Barrierefreiheit - zu modernisieren.

Reisen müsse rund um die Uhr möglich sein, sagt die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben und hat nach einem gescheiterten Schlichtungverfahren Klage gegen das Eisenbahn-Bundesamt und das Verkehrsministerium eingereicht. Die Initiative verlangt, dass Einstiegshilfen auch außerhalb der Kernzeiten zur Verfügung stehen. Wann über die Klage entschieden wird, steht noch nicht fest.

Und was ist mit den Bahnhöfen?

Barrieren sind auf deutschen Bahnhöfen immer noch allgegenwärtig: Im Jahr 2020 musste das Bundesverkehrsministerium einräumen, dass rund jeder sechste von insgesamt 9.200 Bahnsteigen nicht barrierefrei ist. Aufzüge oder Rampen sollen zwar perspektivisch überall nachgerüstet werden - das kann aber noch viele Jahre dauern.

Auch defekte Aufzüge oder Rolltreppen sind vielerorts ein echtes Problem. Selbst an so wichtigen Bahnknotenpunkten wie Berlin oder Köln dauert es oft lange, bis wichtige Mobilitätshilfen repariert sind. Immerhin informiert die Bahn inzwischen per App "DB Bahnhof live" über solche Hindernisse, sodass die Planung etwas leichter geworden ist.

Über dieses Thema berichten wir im WDR am 15.09.2022 auch im Podcast 0630.

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