Gibt es 2024 wieder große Atomtransporte durch NRW?
Stand: 15.10.2023, 19:42 Uhr
In Jülich lagert seit Jahren hochradioaktiver Atommüll. Was damit passiert, ist unklar. Im kommenden Jahr könnte es Castortransporte nach Ahaus geben. Atomkraft-Gegner protestieren am Sonntag dagegen.
Von Christian Wolf
Aus den Augen, aus dem Sinn - im Alltag mag das manchmal klappen. Doch wenn es um radioaktiven Atommüll geht, ist das nicht so einfach. Zwar hat sich Deutschland im April aus der Nutzung der Kernenergie verabschiedet und für viele Menschen ist das atomare Kapitel damit beendet. Doch die Überreste dieser Technik verschwinden nicht so einfach. Die Frage, was mit dem Atommüll passiert, ist weiterhin unbeantwortet.
Das wissen auch die Menschen in Jülich. Dort wurde bis 1988 ein Versuchsreaktor betrieben. Und im Jahr 2023 ist noch immer unklar, was mit dem Atommüll passiert. Seit Jahren wird um eine Lösung gerungen. Inzwischen kommt Bewegung in die Sache. Es könnte sein, dass der Atommüll in das Zwischenlager in Ahaus gebracht wird. Das würde bedeuten, dass es größere Atomtransporte durch NRW gibt - inklusive Proteste und möglicher Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten. Hier sind die Antworten auf die wichtigsten Fragen:
- Um welchen Atommüll geht es?
- Warum soll der Atommüll weg?
- Was kann mit dem Atommüll passieren?
- Welche Kosten könnten entstehen?
- Kommt es am Ende zu den Atomtransporten von Jülich nach Ahaus?
- Was sagt die NRW-Landesregierung?
- Wie würden die Transporte ablaufen?
- Wie sicher sind die Transporte?
- Wird es Proteste geben?
Um welchen Atommüll geht es?
Modell einer Atomkugel in Jülich
In dem Jülicher Versuchsreaktor wurden zwei Jahrzehnte lang verschiedene Brennelemente getestet. Die hochradioaktiven Überbleibsel stehen jetzt im Fokus. So geht es nach Angaben der Jülicher Entsorgungsgesellschaft für Nuklearanlagen (JEN) um 288.161 Kugeln, in deren Inneren der atomare Brennstoff ist. Die Kugeln sind etwa sechs Zentimeter groß - also so wie ein Tennisball. Sie lagern in insgesamt 152 Castorbehältern, die in einem Zwischenlager der JEN stehen.
Warum soll der Atommüll dort weg?
2013 ist die Genehmigung für das Zwischenlager ausgelaufen. Ein Jahr später kam vom NRW-Wirtschaftsministerium als Aufsichtsbehörde in Sachen Atomrecht die Anordnung zur unverzüglichen Räumung. Fast zehn Jahre später ist die noch immer nicht erfolgt. Aus Sicht des JEN lagern die Atomkugeln dort aber nicht illegal. "In der Anordnung steht drin, bis Sie geräumt haben, darf das Material weiterhin bei Ihnen lagern", sagt JEN-Sprecher Jörg Kriewel. Im juristischen Sinne bedeute 'unverzüglich', dass man "nicht schuldhaft zögern" dürfe, indem die Anordnung aktiv verschleppt oder dagegen verstoßen werde. Das sei nicht der Fall.
Die Gründe dafür, dass noch immer nichts passiert ist, sind vielfältig. So haben sich zum Beispiel Richtlinien geändert und in all den Jahren haben auch die politisch Verantwortlichen gewechselt.
Die Castorbehälter lagern seit Jahren in dem Zwischenlager in Jülich
Was kann mit dem Atommüll passieren?
Im Grunde gibt es aber drei Optionen, die verfolgt wurden oder noch werden:
- Option 1: Die Atomkugeln sollten in die USA verschifft werden, da die Brennstoffe auch von dort stammen. Transportiert werden sollten sie auf einem Schiff. Irgendwann wurde diese Option aber als zu aufwendig begraben.
- Option 2: In Jülich könnte ein neues Zwischenlager gebaut werden, das alle aktuellen Anforderungen erfüllt. Dort sollen die Atomkugeln bleiben, bis es irgendwann in Deutschland ein Endlager gibt.
- Option 3: Der Atommüll wird in das Zwischenlager in Ahaus gebracht und dort gelagert, bis ein Endlager zur Verfügung steht.
Auf dem Gelände in Jülich könnte ein neues Zwischenlager entstehen
Offiziell werden derzeit noch beide offenen Optionen verfolgt. JEN-Sprecher Kriewel sagt zwar: "Die Optionen haben alle ihr Für und Wider. Ich will nicht sagen, es gibt nur die eine richtige Option." Dennoch räumt er ein, dass die Ahaus-Option "gewisse Vorteile" habe. So gebe es dort bereits ein bestehendes Lager, das Kapazitäten habe und in dem noch andere Castoren mit kugelförmigen Brennelementen wie denen aus Jülich stünden. "Der zweite Punkt ist natürlich die Verwendung von Steuergeldern." Es sei günstiger, die Castoren nach Ahaus zu bringen, als ein komplett neues Zwischenlager zu bauen.
JEN-Geschäftsführerin Beate Kallenbach sagte dem WDR, die Ahaus-Variante werde im Moment "prioritär" verfolgt - weil sie sie am schnellsten realisierbare Option sei. Für den Fall, dass das nicht klappe, habe man noch die Neubau-Option in Jülich.
Welche Kosten könnten entstehen?
Die JEN sagt, dass der reine Transport von Jülich nach Ahaus etwa 35 Millionen Euro kosten würde. Hinzu kämen 42 Millionen Euro für die Vorbereitung. Pro Jahr entstünden dann eine Million Euro Miete - die jetzt schon in Form einer "Reservierungsgebühr" gezahlt werde.
Für einen Neubau in Jülich veranschlagt das JEN 80 bis 100 Millionen Euro. Die Kosten seien deshalb so hoch, weil in einem Erdbebengebiet gebaut würde. Hinzu kämen noch die laufenden Kosten, die ein "vielfaches" höher seien als die Millionen-Miete in Ahaus. Über die Jahre kämen deutliche Mehrkosten zusammen. "Das ist am Ende Steuergeld, das nicht sinnvoll ausgegeben ist", sagt Kriewel.
Kommt es am Ende zu den Atomtransporten von Jülich nach Ahaus?
Das könnte sein, ist aber noch nicht sicher. Die Jülicher haben beim zuständigen Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) einen Antrag für den Transport dort hin gestellt. Die Genehmigung gibt es aber noch nicht. Das BASE teilte dem WDR mit: "Das Verfahren befindet sich in einem fortgeschrittenen Stadium." Es seien aber noch nicht alle Voraussetzungen erfüllt.
Die JEN gibt sich bereits optimistisch. "Bei der Ahaus-Option ist quasi ein Meilenstein in Aussicht gestellt. Und zwar haben wir von der Genehmigungsbehörde Signale bekommen, dass einer Genehmigungserteilung für den Transport der Behälter im Grunde nichts mehr Wesentliche im Wege steht", sagt der Sprecher. Noch in diesem Jahr werde mit der Genehmigung gerechnet. Anfang 2024 könnte es dann los gehen - wenn nicht gegen die Transportgenehmigung geklagt wird.
In das Zwischenlager in Ahaus könnte der Jülicher Atommüll gebracht werden
Genau das ist bei einer anderen Genehmigung schon der Fall. Seit 2016 gibt es nämlich schon grünes Licht dafür, dass die Jülicher Castoren in Ahaus gelagert werden dürfen - ebenfalls wichtig, damit alles klappt. Doch die Stadt Ahaus hat 2017 dagegen geklagt. Manuel Benning, Erster Beigeordneten der Stadt, sagte dem WDR, dass man die Genehmigung für rechtswidrig halte. So sei unklar, welchen Inhalt die Behälter genau haben. "Beim Befüllen wurde kein oder nur unzureichend Protokoll geführt." Kurzum: Die Stadt will den Atommüll aus Jülich nicht. Sie schätzt ihre Erfolgsaussichten als "gut" ein.
Sollte aus dem Transport nach Ahaus tatsächlich nichts werden, weil er juristisch verhindert wurde, bliebe nur noch die Option eines Neubaus in Jülich. Die Planungen dafür laufen laut der JEN derzeit parallel. So soll noch in diesem Jahr ein passendes Grundstück gekauft werden.
Was sagt die NRW-Landesregierung?
Dort scheint es wenig Sympathie für Atomtransporte nach Ahaus zu geben. Schon im Koalitionsvertrag haben CDU und Grüne vergangenes Jahr vereinbart: "Wir setzen uns für eine Minimierung von Atomtransporten ein." Im Fall Jülich bedeute dies, "dass wir die Option eines Neubaus eines Zwischenlagers in Jülich vorantreiben".
Grünen-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur ist auch für die Atomaufsicht zuständig
Auf WDR-Anfrage teilte das zuständige Wirtschaftsministerium zwar mit, dass das JEN beide Optionen "gleichwertig zu verfolgen" habe. Doch offenbar will man den Atommüll weiterhin gerne in Jülich lassen. Eine neue Genehmigung für das bestehende Lager sei "mit weniger Unsicherheiten versehen und schneller zu erreichen", heißt es. Außerdem wird darauf verwiesen, dass selbst das Zwischenlager in Ahaus nur eine Betriebsgenehmigung bis 2036 habe. "Vor diesem Hintergrund könnte eine Konzentration auf die Neubau-Option am Standort Jülich zu bevorzugen sein", so die klare Präferenz des Grün-geführten Wirtschaftsministeriums.
Damit scheint NRW eine andere Position zu haben als die Bundesregierung. Denn im September 2022 war in einem Bericht von drei Bundesministerien an den Haushaltsausschuss des Bundestages davon die Rede, dass Ahaus "die grundsätzlich vorzugswürdige Option" sei - unter anderem wegen der niedrigeren Kosten. Auch sei mit einem Neubau in Jülich erst ab 2032 zu rechnen.
Wie würden die Transporte ablaufen?
Einige Details sind bereits bekannt, andere gelten als Verschlusssache und sollen geheim bleiben. Das gilt für die konkrete Strecke von Jülich nach Ahaus. Welche Route die Castoren nehmen könnten, ist nicht bekannt. Klar ist nur, dass der Rhein einmal überquert werden müsste und es quer durch NRW geht.
Die JEN hat nach eigenen Angaben beantragt, dass jeder Castor einzeln nach Ahaus gebracht wird. Am Ende würde es also 152 Fahrten geben. "Wir rechnen mit einer Gesamtprojektdauer von rund zwei Jahren. Das hat einfach damit zu tun, dass es bestimmte Situationen gibt, wo man nicht transportieren kann", sagt JEN-Sprecher Kriewel. Wenn im Sommer 2024 die Fußball-EM auch in NRW stattfinde, würden dort viele Polizeikräfte gebraucht. Am Ende werde es wohl Phasen geben, wo vier Fahrten pro Woche möglich seien - und mal gar keine über mehrere Wochen.
Für die Transporte haben die Jülicher spezielle Lkw anfertigen lassen - 30 Meter lang und 130 Tonnen schwer. Ein Castorbehälter kann darauf montiert werden. Insgesamt vier solcher Lkw gibt es. Theoretisch könnte also auch in einer Kolonne gefahren werden. Die JEN weist aber zum Beispiel darauf hin, dass das Be- und Entladen des hochradioaktiven Atommülls aufwendig ist und Zeit braucht. Und einen Lkw mit einem Castorbehälter kann man schließlich nicht einfach so auf der Straße parken.
Wie sicher sind die Transporte?
Die JEN hat keine Sicherheitsbedenken. "In dem Genehmigungsverfahren wird sichergestellt, dass das Maximum an Sicherheit berücksichtigt wird", sagt der Sprecher. Jede Situation werde im Vorfeld durchdacht. "Erfahrungsgemäß hat es in Deutschland noch nie ein Problem während eines Transports gegeben." Am Ende des Tages gelte das Ziel: "Es darf keine Radioaktivität in die Umwelt gelangen."
Auch das für die Transportgenehmigung zuständige Bundesamt versucht, Bedenken auszuräumen. So wird auf "strenge Regeln" bei der Sicherheit verwiesen. Nur wenn alle Anforderungen erfüllt seien, gebe es eine Genehmigung.
Damit nichts schief läuft, werden die Fahrten geprobt. Eine erste Leerfahrt fand im Juni statt. Da fuhr ein leerer Lkw von Jülich nach Ahaus. Damit wurde getestet, ob das lange Gefährt überhaupt überall durchkommt und nicht vielleicht in einem Kreisverkehr stecken bleibt. Ende des Jahres soll es eine "Generalprobe" geben. Dafür werden dann auch leere Castorbehälter transportiert.
Wird es Proteste geben?
Damit sollte gerechnet werden. Die Frage ist nur, wie groß sie ausfallen. Bei der Leerfahrt versammelten sich in Ahaus ein paar Dutzend Anhänger der Bürgerinitiative "Kein Atommüll in Ahaus" und blockierten einen Kreisverkehr. Sie sind gegen die Transporte und fordern eine weitere Lagerung in Jülich. Diese Option werde aber "seit mehr als zehn Jahren immer wieder verzögert und hinausgeschoben, man könnte auch sagen sabotiert", heißt es.
Die Bürgerinitative begründet ihre Ablehnung so: "Atommüll-Transporte sind niemals ohne Risiko und sollten wenn möglich vermieden werden. Der Atommüll sollte daher grundsätzlich an den Orten verbleiben, an denen er entstanden ist - solange es kein genehmigtes Endlager gibt." Zudem seien die Atomkugeln in der jetzigen Form nicht "endlagerfähig" und müssten irgendwann nochmal woanders bearbeitet werden, bevor es in ferner Zukunft in ein noch zu bauendes Endlager geht. Die JEN widerspricht dem auf Anfrage.
Entscheidend wird am Ende sein, wir sehr die Anti-Atom-Bewegung nach dem offiziellen Aus der Atomkraft überhaupt noch Massen mobilisieren kann. In den 1990ern herrschte noch Ausnahmezustand rund um Ahaus, als Castoren mit Brennelementen dort hingebracht wurden. Ob die Demonstrationen Jahrzehnte später erneut so viele Menschen anlocken, ist unsicher.
Atomkraftgegner in Ahaus
Einen ersten Testlauf hat es am Sonntag in Ahaus gegeben. Mehrere Anti-Atomkraft-Initiativen hatten unter dem Motto "Keine Castor-Transporte durch NRW!" zu Protesten aufgerufen - rund 200 Menschen folgten dieser Aufforderung. Parallel hingen Protestbanner an Autobahnen in Düsseldorf, Duisburg und Lingen, sowie vor dem Atom-Forschungszentrum in Jülich, von wo aus mehr als 150 Castoren per Lkw nach Ahaus zum dortigen Zwischenlager rollen könnten.