Buchcover: "Chronik des eigenen Atems" von Serhij Zhadan

"Chronik des eigenen Atems" von Serhij Zhadan

Stand: 02.01.2025, 07:00 Uhr

Der Ukrainer Serhij Zhadan gehört zu den wichtigsten Autoren seines Landes. Seine "Chronik des eigenen Atems" versammelt Texte aus den Monaten vor und nach dem 24. Februar 2022, dem Kriegsbeginn in der Ukraine. Eine Rezension von Nils Beintker.

Serhij Zhadan: Chronik des eigenen Atems
Aus dem Ukrainischen übersetzt von Claudia Dathe.
Edition Suhrkamp, 2024.
124 Seiten, 20 Euro.

"Falle Schnee, auf unsere Kindheit / Zuflucht aus Treue und Klang, / hier waren wir vertraut / mit der dunklen Seite der Sprache / mit der Verdunklung der Zärtlichkeit, / hier lernten wir die Stimmen zusammen zu legen / wie Besitz…"

Eine "kurze Geschichte vom Schnee" will die Stimme in diesem Gedicht von Serhij Zhadan zusammentragen, gestützt auf Nacherzählungen von Augenzeugen, ebenso auf Lieder und Erinnerungen von Passanten. Und nichts verschwindet unter dem Schnee. Im Gegenteil: Alles tritt ans Licht. Für Serhij Zhadan – so erzählt er dieser Tage im Interview – ist der Schnee eine Metapher für Bewegung und Veränderung, selbst in Momenten der Erstarrung.

O-Ton Serhij Zhadan:
"Einerseits ist Schnee, das, was das Leben bedeckt, das, was nach einer bestimmten Manifestation des Lebens kommt, andererseits ist Schnee nichts Endgültiges, nichts, was alle möglichen Auswege versperrt. Trotz allem kommt nach ihm etwas, nach ihm bleibt trotz allem die Möglichkeit eines Auswegs, die Möglichkeit der Stimme."

Im neuen Gedichtband "Chronik des eigenen Atems" nimmt die "kurze Geschichte des Schnees" eine wichtige Rolle ein. Das lange Gedicht, datiert auf den 10. Februar 2022, ist das letzte, das vor dem Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges gegen die gesamte Ukraine entstand. Der tiefe Bruch, die russische Invasion, ist in der Mitte des Gedichtbandes dokumentiert. Es gibt ein sicht- und fühlbares Davor und Danach.

"Es erwarten Menschen den Abend, die Schnecken gleichen, / so hart schlafen sie auf den Bahnhöfen, so tief. / Gebrochen die Grenzlinie wie ein Kiefernzweig. / Der Weg ist schwer, wenn du dein Haus und den gestern auf dem Rücken trägst."

Die Menschen, die den Schnecken gleichen, flüchten vor den russischen Aggressoren: Frauen und Kinder, auf der Odyssee westwärts, auf Wegen, auf denen Stimmlosigkeit herrscht. "Das Haus ist euch genommen, nicht aber das Herz", ruft ihnen die Stimme im Gedicht aus dem August 2022 nach. Die Poesie, so Serhij Zhadan, könne das aufnehmen, was auf den ersten Blick als unsagbar erscheint. Es könne hinter die Dinge, hinter das Sichtbare blicken.

Serhij Zhadan schreibt oft aus einer Position der Stille heraus, abtastend, beobachtend, erkundend. Während seine "Chronik" in Deutschland erscheint, beginnt in der Ukraine der dritte Kriegswinter. Als der Schriftsteller einige Gedichte aufnimmt, so berichtet er, schlägt in der Nähe seiner Wohnung eine Rakete ein.

O-Ton Serhij Zhadan:
"Denken Sie einfach daran, dass tatsächlich genau jetzt unsere Städte, unsere Dörfer unter russländischem Beschuss liegen, genau jetzt Ukrainer, Erwachsene und Kinder sterben, das passiert jeden Tag, und da ist eine furchtbare Sache, die man weder auf die Politik noch auf die Geopolitik noch auf irgendwelche ökonomischen Interessen schieben kann. Natürlich hoffen wir sehr auf Hilfe. Vielleicht mehr noch als auf Hilfe hoffen wir auf Verständnis, für uns ist es sehr wichtig, dass wir in einer gemeinsamen Sprache miteinander sprechen, dass es sich dabei um eine ehrliche Sprache, um eine offene Sprache handelt. Das ist es, was die Menschen tun können."

Am 19. Oktober 2022 (kurz vor der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Serhij Zhadan) heißt es in der "Chronik des eigenen Atems": Die Sprache brauche jene, die leise sprechen "und überzeugend schweigen". Das wäre auch eine treffende Umschreibung für diese Gedichte, Ausdruck eines tiefen Humanismus und einer stetigen Ermutigung.