Buchcover: "Pension Seeparadies" von Jens Wonneberger

"Pension Seeparadies" von Jens Wonneberger

Stand: 05.06.2024, 07:00 Uhr

Am Strand schweift der Blick ins Weite, die Gedanken wirbeln durch die Luft, die Erinnerungen schwappen in die Gegenwart wie die Wellen ans Ufer – für den Lehrer Winkler, Hauptfigur in Jens Wonnebergers neuem Roman "Pension Seeparadies", steht nicht mehr und nicht weniger als ein Leben auf dem Spiel. Eine Rezension von Ulrich Rüdenauer.

Jens Wonneberger: Pension Seeparadies
Müry Salzmann, 2024.
176 Seiten, 24 Euro.

"Pension Seeparadies" von Jens Wonneberger

Lesestoff – neue Bücher 05.06.2024 05:31 Min. Verfügbar bis 05.06.2025 WDR Online Von Ulrich Rüdenauer


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Der Urlaub könnte so schön sein – dort am Meer: Vom "Gold der Ostsee" sprechen die Tourismusmanager, die gebuchte Pension heißt auch noch Seeparadies, und nach der Wende hat es Winkler als Lehrer und mit seiner Frau Britta gar nicht so schlecht getroffen.

Aber wenn man diesen nicht mehr ganz jungen Seitensteher am Strand spazieren gehen sieht und in ihn hineinhorcht, dann weiß man: Erholung ist etwas anderes. Was er beobachtet, trägt zudem nicht zu einer ausgelassenen Ferienstimmung bei.

"Im Wasser trieben die angeschwemmten Rosenblüten einer Seebestattung, sie schwappten gegen die Steine und wurden dann wieder zurückgezogen. Die Steine waren jetzt größer, was das Gehen erschwerte und den Ton der Brandung dumpfer machte. Dazwischen lagen Betonbrocken, aus denen sich die rostigen Stümpfe von Armierungseisen bogen, auch rundgeschliffene Ziegel, vermutlich Reste einer Bunkeranlage aus dem letzten Krieg, der nicht der letzte sein würde."

Dass er morgens alleine durch den Sand stapft, hat seine Gründe: Winkler hat sich mit seiner Frau gestritten. Zielloses Gehen, abschweifende Bewegungen, Fluchten im Miniaturformat – man kennt diesen Typus aus anderen Büchern Jens Wonnebergers.

Und so wie die Wellen Muschelschalen, Krabbenscheren und Quallen ans Ufer spülen, so spült ihm die Erinnerung Szenen und Missverständnisse ins Hirn. Winkler trägt einiges mit sich herum.

"Gehen, dachte Winkler, im Gehen kann man besser denken, aber auch besser vergessen. Er wusste nicht, was ihm jetzt lieber war, ging einfach weiter, immer weiter, er sah sich nicht um, der Mann war bestimmt längst davongeflogen, übers Meer vielleicht oder zurück zur Pension, wo er seine Frau wecken und ihr von der Begegnung erzählen würde, und dann würde auch Britta beim Frühstück erfahren, wo Winkler war, sie müsste sich keine Sorgen machen."

Die Begegnung mit einem Pensionsgast, der ihm schon am Abend zuvor negativ aufgefallen war, macht ihm zusätzliche schlechte Laune. Das Seeparadies, das mit dem Slogan "Ostalgie zu Westpreisen" für sich wirbt, ist für einen Eigenbrötler ein eher gewöhnungsbedürftiger Ort. Die frühe Morgenstunde und das offene Meer laden zu grundsätzlichem Bilanzieren ein. Während seines Lehrerdaseins träumte er immer wieder vom Ausstieg. Ein Antiquariat hätte ihm vorgeschwebt.

"Er hatte viele Kollegen gehen sehen, er aber war geblieben, wobei mal das Pflichtbewusstsein, mal die Angst vor dem Ungewissen überwogen hatte, nun könnte es bald so weit sein, auch wenn es nicht sein Traum war, sondern das Alter, das ihn an diesen Punkt bringen würde."

Der Hut, der dem andern Gast vom Kopf geweht wird, erinnert ihn an eine Gedichtzeile:

"…dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut…"

Das ist der Beginn von Jakob van Hoddis‘ "Weltuntergang". Ein bisschen etwas von Weltuntergang schwebt über dem Bürger Winkler, der immer gut durchgekommen ist: Ein harmloses Laubfeuer erinnert ihn an einen Granateneinschlag; ein Gebüsch, aus dem Amseln plötzlich auseinanderstieben, an Erdklumpen bei einer Explosion.

Und dann sind da die Irritationen mit seinem alten Freund Jürgen Bergthaler, der sich zu DDR-Zeiten als Widerständler fühlte, nach der friedlichen Revolution den Feind verlor und nun das System für seinen Misserfolg verantwortlich macht. Migration betrachtet er als Gefahr, der Presse misstraut er ganz grundsätzlich, und für den Beamten Winkler hat er nur noch Sticheleien übrig.

Es sind viele kleine Risse, die das einst solide Gedankengebäude Winklers zu einem einsturzgefährdeten Ort machen. Die Urlaubsreise bringt es ans Licht, etwas bricht aus dem Unbewussten hervor. Gefahren lauern überall.

Jens Wonneberger zeichnet diese subtilen Verwerfungen auf prägnante Weise. Das Schreckliche kommt nicht mit einem großen Wumms, sondern zeigt sich in verschiedenen Schreckmomenten. Von da ist es nicht mehr weit zum Greifbar-Werden des eigenen Tods.

"Er hatte Angst, und die ließ sich nicht besiegen, nur weil er sie grundlos nannte, die Angst war auf seine Beschwichtigungen nicht angewiesen, sie genügte sich selbst."

Jens Wonnebergers Kunst des Erzählens ist eine Kunst des Andeutens. Er treibt uns hinein in die oft quälenden Überlegungen seiner kleinbürgerlichen Helden, die zwischen Anpassung und innerer Rebellion verharren. Sie ahnen unheilvoll etwas von der Welt, in der sie leben, aber ihr Handlungsimpuls ist schwach.

Am liebsten wäre ihnen, man ließe sie in Ruhe. Aber diese Ruhe gibt es nicht mehr, auch nicht für den Lehrer Winkler – dieser Unruhe immer wieder literarischen Ausdruck zu verleihen, unterschwellige Stimmungen an die Oberfläche zu bringen, das kann Jens Wonneberger wie kaum ein zweiter.