Buchcover: "Unterwegs sind wir alle. Peter Härtling. Eine Biographie" von Klaus Siblewski

"Unterwegs sind wir alle. Peter Härtling. Eine Biographie" von Klaus Siblewski

Stand: 13.11.2023, 12:00 Uhr

Peter Härtling (1933-2017) wäre am 13. November 90 Jahre alt geworden. Ihm zu Ehren sind nun eine erhellende Biografie und ein opulenter Gedichtband erschienen. Eine Rezension von Andreas Wirthensohn.

Klaus Siblewski: Unterwegs sind wir alle. Peter Härtling. Eine Biografie
Kiepenheuer & Witsch 2023.
354 Seiten, 28 Euro.

Peter Härtling: An den Ufern meiner Stadt. Späte Gedichte
Herausgegeben von Klaus Siblewski.
Kiepenheuer & Witsch, 2023.
478 Seiten, 28 Euro.

"Unterwegs sind wir alle. Peter Härtling. Eine Biografie" von Klaus Siblewski

Lesestoff – neue Bücher 13.11.2023 06:35 Min. Verfügbar bis 12.11.2024 WDR Online Von Andreas Wirthensohn


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Als Peter Härtling am 10. Juli 2017 starb, ging eine Schriftstellerkarriere zu Ende, die sage und schreibe sieben Jahrzehnte umfasste. Kurz nach Kriegsende hatte der junge Peter damit begonnen, Geschichten zu schreiben, und das Schreiben war für ihn von Anfang an ein Mittel, mit den traumatischen Kindheitserfahrungen umzugehen.

Die Familie war während des Zweiten Weltkriegs ins damalige Protektorat Böhmen und Mähren gezogen, musste dann aber vor der anrückenden Roten Armee fliehen und kam schließlich über Österreich ins schwäbische Nürtingen. Der Vater starb 1945 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, die Mutter nahm sich ein Jahr später aus Verzweiflung das Leben, und da saß nun dieser Junge elternlos in der Stadt, in der auch Hölderlin seine Kindheit verbracht hatte und die vom Krieg weitgehend verschont geblieben war:

"Er fühlte sich fremd, gehörte nicht an diesen unversehrten Ort. Hier wusste die Mehrheit der Nürtinger offenbar kaum, was Krieg bedeutete, und sicher nicht, was es hieß, über Wochen in einem Waggon durch unbekannte Gegenden gefahren zu werden und nicht gesagt zu bekommen, wohin die Reise ging. Und dieses Gefühl der Fremdheit und Nicht-Zugehörigkeit spürte er nach wie vor. Wollte er es überwinden, musste er davon erzählen."

Als er Rilke entdeckt, wendet er sich der Lyrik zu, und Mitte der 50er Jahre erscheinen seine ersten beiden Gedichtbände. Der Auftritt auf der literarischen Bühne ist mit ersten Lesungen verbunden – solche Lesereisen sollte Härtling später mit großer Hingabe und Intensität absolvieren –, doch eine davon gerät zu einer frustrierenden Erfahrung. Ein Buchhändler in Esslingen hat Härtling und einen Dichterkollegen eingeladen, aber der Abend verläuft reichlich unglücklich:

"Härtling wurde gebeten, jedes Gedicht nicht nur ein Mal vorzutragen, sondern es nach einer kurzen Pause ein zweites Mal laut zu wiederholen. Der Grund für diese Bitte: Die Zuhörer hätten beim ersten Vortrag die Gedichte nicht verstanden. (…) Aber auch nach dem zweiten Vortrag schauten die Zuhörer Härtling genauso irritiert an wie nach der ersten Lesung."

Fortan wendet er sich der Prosa zu. Seit Mitte der 60er Jahre, als seine ersten Erzähltexte erscheinen, gehört Härtling zu den wichtigsten Autoren der deutschen Nachkriegsliteratur: von der Kritik viel beachtet und gelobt, vor allem aber viel gelesen.

Nicht wenige Menschen erwarten den "neuen" Härtling genauso begierig wie den neuen Grass oder den neuen Walser. Noch berühmter wird Härtling, als er 1970 sein erstes Buch für Kinder vorlegt, dem viele weitere folgen. Heute tragen mehr als zwanzig Schulen seinen Namen, und zu seinem 50. Geburtstag wurde ein nach ihm benannter Jugendliteraturpreis gestiftet.

Peter Härtling war ein unermüdlich Schreibender. Dabei war er erst ab dem 1. Januar 1974 das, wovon er immer geträumt hatte: ein freier Schriftsteller. Bis dahin hatte er hauptberuflich als Journalist und Verlagslektor, einige Jahre sogar als Leiter des S. Fischer Verlags gearbeitet.

Nun aber konnte er sich ganz dem eigenen Werk widmen und es erschienen in rascher Folge die Romane, die ihn berühmt machen sollten. Das Bemerkenswerte an seinem Schreiben war, dass jedes neue Buch sich wieder seine eigene Form suchte. Keines glich dem anderen, und doch war da immer dieser Härtling-Ton, der seine lesende Fangemeinde so begeisterte: feinsinnig, skrupulös, nie auftrumpfend und stets von großer Ernsthaftigkeit getragen.

Klaus Siblewski hat eine Biografie des Schriftstellers Peter Härtling vorgelegt, die von großer Sympathie und Empathie getragen ist. Und die deutlich macht, welch existentielle Grundierung das Schreiben bei Härtling hatte. Das gilt nicht nur für die erkennbar autobiografischen Bücher, sondern gerade auch für die Romane und Erzählungen, in denen er sich fremde Leben aneignete.

"Dabei blieb er seiner ästhetischen Grundüberlegung treu, Geschichten, die böse endeten, in einer dem Leben zugewandten Variante, also angereichert mit dem Zukunftspotenzial, das in ihnen lag, zu erzählen."

Eine Zeittafel hätte der Biografie gut getan, und dass sie eine irritierende Fülle an orthografischen und grammatikalischen Fehlern enthält, hätte den Biografierten vermutlich selbst am meisten erzürnt. Trotzdem: Siblewskis Porträt bringt uns diesen bedeutenden Nachkriegsautor wirklich näher und macht große Lust, seine Bücher wieder zur Hand zu nehmen.

Mit Gedichten hatte Härtling einst begonnen, und Gedichte hat er bis ans Ende seines Lebens geschrieben, das in den letzten Jahren gezeichnet war von schwerer Krankheit und immer kurzatmiger werdenden Sätzen. Dass ihm dabei trotzdem Verse von verblüffender Leichtigkeit gelungen sind, beweist noch einmal die ganze Größe dieses Autors.

"ÜBERGANG

In den Schlaf schlafen,
über die Taggrenze hinweg,
leicht werden, traumfrei,
befreit vom Gedankengeröll.
Die Jahre sind ausgezählt,
die Ängste abgelebt,
nur im eratmeten Raum
spürst du dich, kannst schweben,
kannst durch Wände gehen,
kannst den Stein erweichen,
bis du dich vergisst."