Buchcover: "Nachtzugtage" von Millay Hyatt

"Nachtzugtage" von Millay Hyatt

Stand: 16.10.2024, 07:00 Uhr

Wer langsamer reist, kommt schneller an: Millay Hyatts Buch „Nachtzugtage“ ist ein vielschichtiges Plädoyer dafür, beim Reisen den Weg nicht weniger wichtig zu nehmen als das Ziel. Eine Rezension von Dirk Hohnsträter.

Millay Hyatt: Nachtzugtage
Friedenauer Presse, 2024.
238 Seiten, 24 Euro.

"Nachtzugtage" von Millay Hyatt

Lesestoff – neue Bücher 16.10.2024 04:57 Min. Verfügbar bis 16.10.2025 WDR Online Von Terry Albrecht


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Ich reise, um etwas von der Welt und den Menschen zu erfahren, und zwar nicht nur am Zielort, sondern sobald ich die Haustür hinter mir schließe

...schreibt Millay Hyatt in ihrem Buch "Nachtzugtage". Erschienen ist es in der wunderbar gestalteten Reihe „Winterbuch“ des Verlags Friedenauer Presse. Seine 13 lose gefügten Kapitel bewegen sich zwischen Erzählung und Essay. Vom Rattern der Schienen rhythmisch geschult, beschreibt es vorbeiziehende Landschaften am Zugfenster, berichtet von Begegnungen mit Schaffnern und Mitreisenden und ergründet den Reiz des Reisens mit dem Nachtzug:

Unschlagbar ist es […], fünf Stunden später aufzuwachen, genau rechtzeitig, um den Vorhang zurückzuziehen und einen roten Streifen am Himmel zu sehen, der den schwarzen Bergkamm am Horizont vom Nachthimmel spaltet, und dann schlaftrunken und bezaubert zu beobachten, wie die Dämmerung langsam eine fremde Landschaft aus der Dunkelheit herausschält und immer schärfer zeichnet. Und dann den Vorhang wieder zuzuziehen und noch eine Runde zu schlafen, bis der Nachtzugbegleiter an die Tür klopft und 10 minutes Ankara ruft.

"Nachtzugtage“ ist das Logbuch einer Leidenschaft, ein  Umdenkbuch für überzeugte Kurzstreckenflieger und ein Kursbuch für alle, die unterwegs gestrandet sind. Zugleich handelt es sich um ein anspielungs- und zitatenreiches Vademecum der Reiseliteratur, das nicht weniger als sieben Seiten Literaturverzeichnis enthält, wenn auch glücklicherweise keine Fußnoten. Zitiert werden von Goethe bis Greene, von Theroux bis Tawada alle, die Nachdenkliches zum Thema geschrieben haben. Doch Hyatts Buch begnügt sich nicht mit Einsichten aus zweiter Hand, es schöpft aus der Fülle des selbst Erlebten, aus ihren eigenen Reisen nach Italien, Griechenland und Georgien sowie einer Vielzahl weiterer Ziele.

Ich streiche schweren Herzens meine Transsib-Pläne und entscheide mich für ein wesentlich komplizierteres Unterfangen: einen Freund in Tiflis, Georgien, zu besuchen. Wäre kein Krieg, wäre ich dafür nach Varna oder Burgas in Bulgarien gefahren oder nach Tschornomorsk in der Ukraine, südlich von Odessa, und hätte mit der Fähre über das Schwarze Meer nach Batumi übergesetzt. Es ist aber Krieg, auch am Schwarzen Meer, also plane ich die Landstrecke über die Türkei. Anstatt, wie ursprünglich geplant, in Berlin einzusteigen und in Moskau wieder aus, steige ich in Berlin ein, in Leipzig um, in Wien um, in Budapest um, in Arad um, in Bukarest um, in Istanbul um, in Ankara um, in Kars um, in Hopa um, in Sarpi um, in Batumi um, und, am Morgen des siebten Tages, in Tiflis aus.

Hyatts Faszination fürs Bahnfahren überträgt sich beim Lesen. Man bekommt Lust, sogleich loszufahren oder nimmt sich wenigstens vor, bei der nächsten Reise offen für Unerwartetes zu bleiben und Verspätungen zum Ausgangspunkt interessanter Entdeckungen zu machen. Hyatt zeigt, dass Pünktlichkeit nicht die Pointe des Bahnfahrens ist. Im Gegenteil: Sie sieht gerade im langsamen Vorankommen, in unverhofften Umleitungen und überraschenden Unterbrechungen eine Chance zur bereichernden Weltbegegnung. Die darin zum Ausdruck kommende Kritik reibungslosen Funktionierens hat etwas Romantisches, um nicht zu sagen, Weltfernes an sich. Doch wer, wenn nicht die Literatur, sollte uns daran erinnern, dass es im Leben Wichtigeres gibt als irgendwo zu einer exakt festgelegten Zeit anzukommen?

Sich auf eine mehrtägige Zugreise begeben heißt improvisieren lernen. Selten läuft alles am Schnürchen, es sind zu viele bewegliche Teile, die ineinandergreifen. Oder eben nicht. In meiner Erfahrung gehört das Nicht-ineinander-Greifen so sehr dazu, dass es sich wiederum wie ein Geschenk anfühlt, wenn alles klappt, wenn die verschiedenen Bauteile der langen, komplexen Reisekonstruktion mit einem befriedigenden Klicken ineinanderrasten und sich nahtlos fügen.