Buchcover: "Wellness" von Nathan Hill

"Wellness" von Nathan Hill

Stand: 03.01.2024, 12:00 Uhr

Chicago in den 1990ern: Jugend, Aufbruch und tolle Pläne für eine ganz besondere Zukunft! Doch auch die Generation X landet in einer ganz anderen Gegenwart als geplant. Eine Rezension von Jutta Duhm-Heitzmann.

Nathan Hill: Wellness
Aus dem amerikanischen Englisch von Dirk van Gunsteren und Stephan Kleiner.
Piper, 2024.
736 Seiten, 28 Euro.

"Wellness" von Nathan Hill

Lesestoff – neue Bücher 03.01.2024 05:24 Min. Verfügbar bis 02.01.2025 WDR Online Von Jutta Duhm-Heitzmann


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Nein, ein Traumpaar sind sie eigentlich nicht, Elizabeth und Jack. Doch sie selbst halten sich dafür, seit sie sich ineinander verliebten, damals, in Chicago, Mitte der 90er Jahre. Da war Jack noch ein unbedarfter Fotograf auf der Suche nach der eigenen künstlerischen Handschrift und Elizabeth eine unsichere Psychologiestudentin. Und sie...

"...nimmt ihn mit in ihre Wohnung, und dort schläft er diese Nacht in ihrem schmalen Bett, dicht an sie geschmiegt, wie auch in der nächsten und übernächsten Nacht und zahllosen anderen Nächten (…) und all der erstaunlichen Zeit, die noch vor ihnen liegt."

Doch im nächsten Kapitel ist bereits die Rede von getrennten Schlafzimmern. Dazwischen liegen allerdings 20 Jahre – also Änderungen, überall. Früher lebten sie in einem verlassenem Gebäudekomplex am Rande der Stadt, zusammen mit anderen Studenten, Künstlern und freakigen Außenseitern, wo es die angesagtesten Szenekneipen gab, provozierende experimentelle Musik, vage Visionen von einer völlig neuen Zukunft. Beide hat­ten mit ihren Familien gebrochen:

"Und das, wird ihnen bewusst, (…) ist der Grund, warum sie einander erkennen und so leicht, so mühelos verstehen: Sie sind beide nach Chicago gekommen, um Waisen zu werden."

Und heute? 2016, in seinem ersten Roman "The Nix", "Geister", hatte sich der amerikanische Schriftsteller Nathan Hill die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im Chicago der 1968er-Jahre vorgeknüpft.

In "Wellness" nun ist es die "Generation X", mit ihren Träumen von Besonderheit und Originalität – die schließlich auch nur in der verzweifelt geleugneten Uniformität ihrer Zeit und ihrer sozialen Gruppe landet, sprich: in einer mainstrea­migen, leicht verlogenen Konsumverweigerung und der Besessenheit vom eigenen Ich.

Jack ist ein schlecht bezahlter Dozent an einer Kunsthochschule, Elizabeth führt ein Institut mit dem verführerischen Namen "Wellness", in dem sie mit ausgeklügelten psychologischen Tricks Placebos als Glücksmedizin verkauft.

"Geschichten haben nur Kraft, solange man an sie glaubt, und als Elizabeth in der Küche saß (…), fragte sie sich, ob ihre gemeinsame Geschichte nicht ebenfalls bloß ein hübsch herausgeputztes Placebo war, eine Geschichte, die sie beide glaubten, weil sie sich dabei wie etwas Besonderes fühlten."

Was also passiert mit der Liebe, wenn sie sich – mit den Personen und in der Zeit – verändert? Diese Frage, die Geschichte von Jack und Elizabeth, ist der rote Faden, der das Buch zusammenhält, und den braucht es auch.

Denn Nathan Hill springt von der Vergangenheit in die Gegenwart und wieder zurück, bricht die gefälligen Narrative auf, die uneingestandenen Lebenslügen der Personen, tastet sich immer weiter in tief vergrabene Wahrheiten vor. Nimmt sich das eine oder andere scheinbar sichere Wissen, diese Behauptung oder jene Erkenntnis vor und seziert sie, wissenschaftlich unterfüttert – und ger­ne auch spöttisch. Liebe – was ist das?

"Man erkennt, was die andere Person hat, und will es ebenfalls haben. Und so erweitern sich die Grenzen des eigenen Ichs und umschließen den anderen wie eine Amöbe. Man hängt sich an diese andere Person, man umfängt sie und nimmt sie in sich auf, bis man sie sich langsam, im Verlauf vieler Monate, einverleibt hat."

Das Buch ist ein Wälzer, über 730 Seiten lang – doch erfrischend kurzweilig und vielschichtig durch den permanenten Perspektivenwechsel, das ironische und klaräugige Umkreisen seines Personals, die vielen kleinen Seitenhiebe über Träume und Realitäten, die gesellschaftlichen Boshaftigkeiten. Wobei das vorläufige Ende der Liebesgeschichte von Jack und Elisabeth – soweit es im Roman erzählt wird – seinen ganz eigenen Zauber hat:

"Das, denkt er, machen Liebende hinter zugezogenen Vorhängen – sie sind Alchemisten und Architekten; Pioniere und Fabulierer; sie machen das eine zum anderen; sie erfinden die Welt um sich herum."