"Ich bin kaputtgemacht worden"
Neuapostolische Kirche kontrovers (Teil 1)
Stand: 07.06.2013, 08:36 Uhr
Vor einer Woche (03.06.2013) berichtete WDR.de zum 150-jährigen Bestehen der Neuapostolischen Kirche (NAK). Der Beitrag löste starke Leserreaktionen aus. Während sich die NAK, die noch vor wenigen Jahren als Sekte galt, heute als moderne Kirche darstellt, schreiben viele Leser von Repression und Angst.
Von Nina Magoley
Immer, wenn es in Bonn eine Kirmes gibt, bekommt Birgit Schmoll Bauchschmerzen. Ihrem kleinen Sohn verspricht sie zwar, dass er Karussell fahren darf - aber insgeheim ist der Kirmesbesuch für die Mutter von acht Kindern eine Qual. "In dem Moment, wo ich meinen Fuß auf das Gelände setze, fange ich an zu zittern, kann nicht mehr richtig atmen", sagt sie. Als Kind waren ihr Kirmesbesuche – genauso wie Kino, Fernsehen oder später die Disco – streng verboten. Statt dessen: "Dreimal in der Woche Gottesdienst, kirchliche Veranstaltungen an fast allen anderen Tagen." Birgit Schmoll wuchs in einer neuapostolischen Familie auf, nach deren Glauben die Wiederkehr Jesus' in naher Zukunft zu erwarten ist. Auf der Kirmes aber, so wurde ihr gesagt, hätte Jesus sie nicht finden können - und nicht in den Himmel mitgenommen, sondern in einer Welt zurücklassen, in der fortan der "Satan" regieren würde.
Der Rat des Seelsorgers: Eine Tracht Prügel
"Ich bin kaputt gemacht worden", sagt Birgit Schmoll, "mein Leben bestand aus Angst und völliger Willenlosigkeit". Die Kirche habe die totale Überwachung auch über das Familienleben gehabt, „wenn wir Kinder nicht gespurt haben, bekamen wir zu Hause 'Familienbesuch'". Das war der sogenannte Seelsorger der Gemeinde, auch "Familienpriester" genannt. Hatten die Kinder aus Sicht der Kirche etwas falsch gemacht, kam er ins Haus, um den Eltern Erziehungsnachhilfe zu geben. Oft – auch wenn das Mädchen Birgit mal wieder Essstörungen hatte – lautete der Rat: eine ordentliche Tracht Prügel. "Verboten war eigentlich alles, was zu einer normalen Jugend dazugehörte", sagt Birgit Schmoll, selbst auf den Stil der Kleidung habe die Gemeinde massiv Einfluss genommen. "In der Schule war ich dadurch immer eine Außenseiterin, wurde ständig ausgelacht." Auch der Berufswunsch musste von der Gemeinde abgesegnet werden. Mit ihrem Wunsch, Krankenschwester zu werden, hatte Birgit Schmoll Glück – sie durfte. Was sie aber nicht durfte: Nach der Verlobung war es ihr verboten, in einem Auto mit ihrem zukünftigen Ehemann zu fahren. "Ich musste immer den Bus nehmen."
"Jetzt ist es so weit: Jesus hat dich nicht mitgenommen."
Neuapostolisches Gesangsbuch
Leitgedanke der Neuapostolischen Kirche ist bis heute die vermeintlich kurz bevorstehende Begegnung mit Jesus, bei der er die "Erstlinge" - diejenigen, die sich seiner würdig gezeigt und eine spezielle Taufe empfangen haben - als "Brautgemeinde" mit in den Himmel nimmt. "Man lebte ständig in der Angst, nicht gut genug gewesen zu sein, um von Jesus mitgenommen zu werden", erinnert sich Schmoll. Unvorstellbare Panik habe sie als Mädchen ausgestanden, wenn die Eltern nach dem regelmäßigen Gottesdienst am Mittwochabend später als angekündigt nach Hause kamen. "Da dachte ich jedes Mal, jetzt ist es so weit: Jesus hat sie mitgenommen und mich nicht." Inzwischen, fünf Jahre nach ihrem Austritt aus der Kirche, hat die heute 40-Jährige einige Therapien hinter sich – doch die Essstörungen, Schuldgefühle und die Angst vor Konflikten wird sie nicht los.
Sie ist damit nicht allein. Ehemalige Mitglieder der NAK treffen sich mittlerweile in Selbsthilfegruppen und im Internet, und ihre Erfahrungen gleichen sich sehr. Alle beschreiben die strengen Tabus, die sie als Kinder zu verlachten Außenseitern machten, die große Angst davor, von Jesus in der Welt eines Satans zurückgelassen zu werden, die totale Kontrolle auch des Privatlebens durch die "Aposteln" der Gemeinde, die völlige Willenlosigkeit bei der Gestaltung des eigenen Lebens. "Viele von uns fühlen sich um ihre Kindheit und Jugend betrogen", sagt Aussteigerin Birgit Schmoll.
Zweifelsgedanken ausmerzen
"Es gab nichts Wichtigeres als diese Vereinigung und das 'Dabeisein' bei der Wiederkunft Christi", erinnert sich auch die heute 54-jährige Kornelia H.. Ihr seien Abitur und Studium verwehrt worden, "weil es sich wegen der Naherwartung des Herrn nicht rentiert hätte". Als sie ihre Zweifel mit anderen Frauen aus ihrer Gemeinde besprechen wollte, sei die Antwort gewesen, "dass man für mich beten würde, damit die Zweifelsgedanken ausgemerzt würden". Viele Jahre habe sie Mut sammeln müssen, um schließlich 2011 den Austritt aus der NAK zu wagen. "Da begann für mich eine fast noch schwerere Zeit", sagt sie, denn plötzlich war sie völlig allein. "Es ist sehr schwer, diese Vereinigung hinter sich zu lassen, denn sie ist nicht ein Teil des Lebens, sondern sie ist das Leben."
Spenden: zehn Prozent vom Bruttolohn
Innenraum der Neuapostolischen Kirche in Lünen
In Postings und auf eigenen Seiten im Internet kritisieren ehemalige NAK-Anhänger auch das in dieser Kirche immer wieder betonte "Opfer". Da die NAK keine Kirchensteuern erhebt, sind Mitglieder angehalten, Geld zu "opfern". Dabei, so steht es auch auf ihrer Internetseite, könne sich das Mitglied nach biblischer Grundlage am "Zehnten" orientieren. Viele Aussteiger berichten, dass sie massiv unter Druck gesetzt worden seien, diese Spende von möglichst zehn Prozent des eigenen Brutto-Einkommens zu entrichten. "Brutto-Spende gleich Brutto-Segen" sei die einschüchternde Formel gewesen, sagt Kornelia H. "Es wird streng kontrolliert, dass die Mitglieder ihren Obolus zahlen", schrieb ein Ex-Mitglied an WDR.de. Verstöße würden ermahnt, "wer nicht zum Gottesdienst erschient, wird zu Hause besucht". Zwar sei das "Opfer" als freiwillig deklariert, schreibt eine andere ehemalige NAK-lerin, "wer jedoch im Gottesdienst häufig genug hört, dass Opfer Segen bringt, der kann als gläubiger NAK-ler gar nicht anders, als das zehnprozentige Opfer allmonatlich in den Kasten zu werfen". Auch Birgit Schmoll erinnert sich: "Die Botschaft war immer eindeutig: Wer nicht opfert, ist nicht gesegnet." Freunde ihrer Eltern hätten einen Kredit aufnehmen müssen, um die Abgabe nicht schwänzen zu müssen.
Die zahlreichen Vorwürfe ehemaliger NAK-Mitglieder gehen noch weiter: "Wenn man aus der Kirche austritt, wird das nicht akzeptiert. Ehemaligen Mitgliedern wird nachgestellt. Auch bei einem Wohnungswechsel setzt die NAK alles daran, die neue Adresse zu bekommen, um ihre Bespitzelungen weiter zu führen", schreibt ein Ex-Mitglied an WDR.de. Auch der "Entschlafenengottesdienst", bei dem längst Verstorbenen Sakramente gespendet werden sollen oder die "Versiegelung", ein Art zweite Taufe, durch die ein Mensch zum Erstling und damit bereit für das "Reich Christi" wird, erscheint vielen obskur. "Oberstes Gebot für die NAK-Gläubigen ist Glaubensgehorsam und kritiklose Nachfolge", schreibt eine andere Frau. "Eine kritische Haltung - Zweifel und Hinterfragen der Lehre - wird als Krankheit der Seele bezeichnet, wer sich von der Gemeinschaft abwendet, ist 'verloren'".
"Heute alles anders"
Bei der Neuapostolischen Kirche selbst zeigt man sich erstaunt über die mittlerweile mehr als 250 Zuschriften an WDR.de. "Was dort berichtet wird, ist sicherlich nicht erfunden", sagt Frank Schuldt, Sprecher der Neuapostolischen Kirche in NRW, aber das seien eher Einzelfälle gewesen und doch alles heute nicht mehr so. Er selber, 33 Jahre alt und in einer Aachener NAK-Gemeinde aufgewachsen, könne sich an keinerlei Druck oder Verbote in seiner Kindheit erinnern. "Vielleicht hing das auch von einzelnen Familien ab, welcher Ton und welche Strenge dort herrschte", meint er. Auch die Spenden seien freiwillig, sagt Schuldt und es würde nicht kontrolliert, wer wie viel spendet. "Ja", räumt er auf Nachfrage ein, während der Gottesdienste sei das Opfer und auch die empfohlenen zehn Prozent regelmäßig Thema. Bei Religionswissenschaftlern, bei den Sektenbeauftragten der evangelischen und der katholischen Kirche und auch des Landes NRW galt die Neuapostolische Kirche wegen ihrer weltabgewandten Haltung noch bis vor einigen Jahren als Sekte.