Contergan-Opfer in Bergisch-Gladbach im Hungerstreik

Hungerstreik für höhere Entschädigung

Contergan-Geschädigte im Hungerstreik

Stand: 27.09.2008, 14:13 Uhr

In Bergisch Gladbach sind Contergan-Opfer in einen Hungerstreik getreten. In Köln haben Betroffene am Samstag (27.09.2008) demonstriert und Unterschriften gesammelt. Sie fordern eine Million Euro für jeden Geschädigten.

Von Gregor Taxacher

Etwa 100 Contergan-Geschädigte und Angehörige vor dem Kölner Hauptbahnhof forderten am Samstag (27.09.2008) gleiche Entschädigung für alle Opfer des Arzneimittel-Skandals in Europa. "Ein englisches Contergan-Opfer bekommt drei Mal so viel Rente wie wir im Mutterland der Tablette", sagt Marie Therese Herzog. Sie hat die Demonstration organisiert, privat, mit Freunden. Die Demonstranten verteilten Flugblätter und baten Passanten, in ihrer Sache an die Bundeskanzlerin zu schreiben.

Hungerstreik in Kirchegemeinde

Auf der Demonstration in Köln wurden auch Unterschriften zur Solidarisierung mit einer Gruppe von Contergan-Geschädigten gesammelt, die in einem evangelischen Gemeindehaus in Schildgen (Bergisch Gladbach) seit dem 18. September 2008 im Hungerstreik sind. Es handelt sich um vier Contergan-Geschädigte und eine Mutter. Sie fordern eine Verdreifachung der Rente (deren Höchstsatz liegt derzeit bei 1.090 Euro) und eine Schadenersatzzahlung von einer Million Euro für jedes Opfer durch die Firma Grünenthal, die Contergan entwickelte und 1957 auf den Markt brachte.

Neuer Verband protestiert international

Diese Forderungen stimmen mit denen der "Internationalen Contergan und Thalidomid-Allianz" (ICTA) überein, die sich im Januar 2008 in Köln als Bürgerinitiative gründete und inzwischen über 1.100 Unterstützer registriert hat. Im April 2008 demonstrierten Mitglieder der ICTA vor der deutschen Botschaft in London, um international auf die vergleichsweise schlechte Entschädigung der deutschen Conterganopfer aufmerksam zu machen. Am 3. Oktober 2008 soll diese Aktion wiederholt werden.

Bundesverband setzt auf laufende Verhandlungen

Der Bundesverband der Contergangeschädigten, der nach eigenen Angaben 85 Prozent der Opfer vertritt, hat moderatere Forderungen: Auch er verlangt eine Verdreifachung der Rente und Verbesserungen der medizinischen Versorgung und der Pflegefinanzierung. Aber bei der Entschädigung fordert er nur eine Einmalzahlung von durchschnittlich 100.000 Euro an jedes Opfer. Darüber verhandelt der Verband mit der Bundesregierung und Grünenthal. Im Juni 2008 wurde eine Verdoppelung der bisherigen Rente (von bis zu 545 Euro) beschlossen, außerdem sagte Grünenthal die Zahlung von 50 Millionen Euro in die Conterganstiftung zu. "Das musste denen hart abgerungen werden", sagt Margit Hudelmaier, Vorsitzende des Bundesverbandes in Allmendingen (Bayern): "Und es ist mehr, als viele vorher gehofft hatten." Jetzt müsse im Gesetz die Verteilung geregelt werden.

Erklärtes Ziel ist "echte Entschädigung"

Kind spielt mit Puppe

Schwere Kindheit wegen Contergan-Schädigung

Die ICTA will nach Aussage ihres Vorsitzenden Udo Herterich den Bundesverband nicht ersetzen. "Ich bin selbst Mitglied. Der Verband ist sehr wichtig", sagt Herterich. Dennoch verfolgt die ICTA ein anderes Ziel: "Wir wollen keine Sonderstellung der Conterganopfer im Behindertengesetz, sondern eine echte Entschädigung. Es geht nicht um eine Besserstellung gegenüber anderen. Nur bei uns gibt es einen Verursacher, der Verantwortung trägt. Das ist der Unterschied." Claudia Schmidt-Herterich, Sprecherin der ICTA, rechnet vor, dass die Forderung nach der Million nur eine menschenwürdige Rente und die dauerhafte Deckung der Pflegekosten der Geschädigten bringen würde. Die 50 Millionen Euro von Grünenthal bedeuteten auch bei geringerer Lebenserwartung für die noch lebenden etwa 2.600 Conterganopfer gerade einmal 110 Euro mehr pro Monat.

"Streit um die richtige Taktik"

Margit Hudelmaier hält dagegen, bei einer Auslegung schon bestehender Gesetze zugunsten von Conterganopfern könne im Bereich Pflege und Rehabilitation schon viel erreicht werden. Darum und nicht um Sonderregelungen gehe es. "Wir möchten in Berlin und mit Grünenthal etwas verhandeln, was auch durchsetzbar ist", sagt Hudelmaier. Dazu hätten die Mitglieder den Bundesverband auch beauftragt. "Das ist ein Streit um die richtige Taktik."

Vielen bleibt nur das Pflegeheim

Hinter der Auseinandersetzung steckt viel Verzweiflung. Denn die Contergangeschädigten - jetzt Mitte vierzig - leiden unter vielfachen Folgeschäden ihrer Behinderung. Das macht oft den bisher ausgeübten Beruf unmöglich und zwingt viele aus Kostengründen in Alten- und Pflegeheime. "Viele von uns sind durch Contergan auch blind oder gehörlos, sie haben Organschäden an Nieren, Herz, sie leiden unter chronischen Schmerzen, sind auf den Rollstuhl angewiesen", sagt Claudia Schmidt-Herterich. 70 Prozent der in Deutschland lebenden Conterganopfer hätten inzwischen schon Frührente beantragen müssen. Außerdem fielen die Eltern, häufig auch Pfleger der Geschädigten, zur Unterstützung nach und nach aus.

"Schrei nach Gerechtigkeit"

Pfarrer Christoph Nötzel, der den Hungerstreikenden die Gemeinderäume in Schildgen zur Verfügung gestellt hat, spricht deshalb von einem "Schrei nach Gerechtigkeit". Dass die Opfer sich jetzt auch ohne und gegen ihre Verbandsvertreter wehrten, spiegele das Ende ihrer Geduld wider. "Sie haben zu oft erlebt, dass über ihre Köpfe hinweg verhandelt und entschieden wurde", sagt Nötzel. Der Hungerstreik sei ein "letztes Mittel". Nötzel betont aber auch, dass der Streik individuell bei Gefahr für Leib und Leben abgebrochen würde. Das sei mit den Streikenden vereinbart worden.

Claudia Schmidt-Herterich gibt zu, dass manche Betroffenen den Hungerstreik für kein geeignetes Mittel des Protests halten. "Dennoch sind wir solidarisch", sagt sie: "Es geht eigentlich darum, endlich Frieden nach dieser Katastrophe zu finden, Frieden für uns, aber auch für die Grünenthal-Familie Wirtz."