Zehn Jahre nach dem Anschlag am Düsseldorfer S-Bahnhof
Splitterbombe: Ein ungelöstes Rätsel
Stand: 11.07.2011, 12:31 Uhr
Vor zehn Jahren wurden zehn Menschen bei einem Bombenattentat am Düsseldorfer S-Bahnhof Wehrhahn schwer verletzt. Darunter waren sechs Juden. Auch weil der Fall nie aufgeklärt wurde, leiden einige Opfer bis heute.
Von Lars Hering
Der Anschlag hatte vor allem deshalb bundesweit für Schlagzeilen gesorgt, weil sechs Opfer Juden waren. Verletzt wurden aber auch Muslime. Wer hinter der Tat steckte oder welches Motiv den Täter antrieb, dafür gibt es nach wie vor keine Anhaltspunkte. „Es kann ein Anschlag mit rechtsradikalem Hintergrund gewesen sein. Organisierte Kriminalität kann dahinter stecken. Vielleicht war es aber auch einfach nur Zufall, dass gerade diese Gruppe vorbei ging. Wir wissen es nicht. Das ist traurig, aber wahr“, sagt Dietmar Wixfort zu WDR.de. Der Kriminalbeamte gehörte damals zu den leitenden Beamten der "Ermittlungskommission Ackerstraße“ (EK).
Das Verfahren ruht derzeit, weil es seit Jahren keine neuen Erkenntnisse gibt. „Sollte es neue Hinweise geben, wird alles wieder hochgefahren. Doch nach zehn Jahren wird es nicht gerade einfacher“, sagt Wixfort.
Fötus stirbt durch die Splitterbombe
Die Kriminalpolizei hat den Tatablauf wie folgt rekonstruieren können: Es ist 15 Uhr, als an jenem Donnerstag eine Gruppe von zehn Sprachschülern auf dem Weg zum S-Bahnhof Wehrhahn ist. Der Unterricht an der Sprachschule am Victoriaplatz ist vorbei. Die drei Frauen und sieben Männer – Flüchtlinge aus der damaligen GUS – gehen die Ackerstraße entlang und wollen gerade die Fußgängerrampe zur S-Bahn betreten. "Es waren Akademiker, die einen Sprachkurs gemacht haben, um in Deutschland einen hier gültigen Uni-Abschluss nachholen zu können", erklärt der damalige Leiter der Sprachschule, Günter Jek.
Doch dann explodiert direkt neben ihnen eine Splitterbombe. Ein Knall, eine Druckwelle, Schreie der Verletzten. Das Ehepaar Michail (damals 28) und Tatjana L. (26) ist am schwersten getroffen. Dem Mann wird der Bauch von den Splittern aufgeschlitzt, der im fünften Monat schwangeren Frau wird ein Bein so stark zerfetzt, dass es erst in einer Notoperation gerettet werden kann. Doch das Schlimmste: Ihren Fötus, ebenfalls von einem Splitter getroffen, verliert sie. Die zehn Sprachschüler werden schnell in Krankenhäuser gebracht und überleben.
LKA und BKA halfen bei der Tatortarbeit
Teilweise bis zu 70 Beamte arbeiteten in der „Ermittlungskommission Ackerstraße“. Spezialisten drehten quasi jeden Stein am Tatort um. Kollegen vom Bundes- (BKA) und Landeskriminalamt (LKA) halfen. Doch die aufwändige Tatortarbeit wurde nicht belohnt. Nur Splitter wurden gefunden. Vom Täter fehlt bis heute jede Spur. "Die Explosion hatte viele Spuren zerstört. Und dann hat auch noch der Regen kurz nach der Tat vieles weggespült" berichtet Wixfort.
Den Ermittler lassen die schrecklichen Bilder von damals bis heute nicht los: "Ich habe den von einem Splitter getroffenen Fötus gesehen. Das ging mir sehr nahe. Aber das war bei jedem in der EK so. Keiner musste motiviert werden. Den Fall wollte jeder geklärt haben."
Auch der damalige Leiter der Privaten Sprachschule, Günter Jek, erinnert sich noch gut an das Attentat: „Als ich benachrichtigt wurde, dachte ich: Um Himmels willen. Wer macht so etwas? Hoffentlich stirbt keiner.“ Noch heute macht Jek der Bombenanschlag ein wenig sprachlos. In der Jüdischen Gemeinde, so Jek, sei der Anschlag heute aber kein Thema mehr. „Das wird nicht mehr thematisiert. Ich fahre aber noch oft an der S-Bahnstelle vorbei und denke an die Opfer.“ Dass Jek die Befindlichkeit der Gemeinde kennt, liegt daran, dass er seit 2005 Leiter des Sozialdienstes der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf ist - eine Folge der engen Zusammenarbeit von Schule und Gemeinde nach dem Anschlag.
"Bei den Opfern ist vieles zerbrochen"
Michail und Tatjana L. leben noch heute in Deutschland. „Das Paar hat sich mittlerweile getrennt“, sagt Jek. Ob die Tat damit zu tun hat, weiß er nicht. Der Kriminalbeamte Wixfort hatte noch bis 2009 Kontakt zu einigen Opfern: „Dass die Tat bis heute nicht aufgeklärt ist, belastet einige. Manche sagen, sie möchten nicht mehr daran erinnert werden. Andere aber fragen sich bis heute, ob der Anschlag ihnen persönlich galt oder ob das alles nur Zufall war.“
Einige der Opfer begleitete auch Vera Steyvers. Sie leitete damals den Sozialdienst der Jüdischen Gemeinde. „Neben den Opfern haben wir uns vor allem auch um alle anderen Gemeindemitglieder aus der GUS noch lange danach gekümmert. Bei den Opfern ist vieles zerbrochen“, so Steyvers. Weil damals viel gespendet wurde, habe Michail L. in Deutschland sein Studium erfolgreich beenden können. Heute belaste Steyvers der Anschlag aber nicht mehr: „Als Mensch verdrängt man, um weiterleben zu können. Ich bin aber auch oft in Israel und habe dort schon viele Bombenanschläge erlebt. Vielleicht brüht man dabei auch ab.“
Kaum Aussichten, dass der Fall jemals gelöst wird
Ob noch einmal Bewegung in das Ermittlungsverfahren kommt, erscheint äußerst ungewiss. Dietmar Wixfort ist heute der letzte Beamte, der bei Hinweisen tätig wird. Die Akten lagern mittlerweile bei der Staatsanwaltschaft Düsseldorf. Die Chancen, den Attentäter jemals dingfest zu machen, schätzt der Kriminalbeamte wegen der wenigen Spuren als äußerst schlecht ein. „Selbst wenn jemand behaupten würde, der Täter zu sein, müsste er uns eigentlich einen Beweis liefern, dass er es war“, sagt Wixfort.