Staatsanwaltschaft Dortmund ermittelt

Razzia bei mutmaßlichen SS-Kriegsverbrechern

Stand: 05.12.2011, 16:54 Uhr

Fast 70 Jahre nach einem Massaker der Waffen-SS im französischen Ort Oradour-sur-Glane wurden die Wohnungen von sechs Tatverdächtigen durchsucht. Der ermittelnde Dortmunder Staatsanwalt Andreas Brendel erläuterte WDR.de die Hintergründe.

Die Ermittlungen richten sich gegen sechs ehemalige Angehörige der 3. Kompanie des I. Bataillons des Panzer-Grenadier-Regiments "Der Führer". Die Waffen-SS-Einheit war im Sommer 1944 im westfranzösischen Dorf Oradour-sur-Glane eingefallen und hatte fast die gesamte Bevölkerung ermordet. Sämtliche Häuser wurden von der SS angezündet. Der völlig zerstörte Ortskern wurde nicht wieder aufgebaut und ist noch heute eine Mahn- und Gedenkstätte.

Blick auf die Ruinen von Oradour-sur-Glane (Frankreich) und eine Gedenktafel, deren Text lautet: "Gedenkstätte - Eine Gruppe von Männern wurde hier von den Deutschen massakriert und verbrannt - Besinnt Euch"

Die Ruinen von Oradour-sur-Glane

Wegen der Gräueltat hatte es Gerichtsprozesse in Frankreich und in der DDR gegeben. In der Bundesrepublik war zwar ermittelt worden, es kam aber nie zu einer Anklage. Nun ermittelt die Dortmunder Staatsanwaltschaft erneut. Bei ihr ist die Zentralstelle für die Bearbeitung von NS-Massenverbrechen in NRW angesiedelt ist.

WDR.de: Herr Staatsanwalt Brendel, aus welchem Anlass haben Sie die Ermittlungen aufgenommen?

Andreas Brendel: Die Initiative kam aus Ludwigsburg. Historiker hatten sich an die dortige Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen gewandt und auf DDR-Akten hingewiesen. Daraus ergibt sich, dass der ostdeutsche Staatssicherheitsdienst ein Ermittlungsverfahren gegen einen Angehörigen der dritten Kompanie geführt hatte, die am Massaker in Oradour beteiligt war. Aus diesem Verfahren ergab sich unter anderem, dass die in Oradour eingesetzten Soldaten möglicherweise schon vor ihrem Einsatz in dem französischen Dorf wussten, was dort geschehen sollte. Der Chef der Einheit soll ihnen zum Beispiel gesagt haben: "Heute soll Blut fließen!"

In diesem DDR-Verfahren wurden zwei weitere Angehörige der Kompanie als Zeugen gehört, aber trotz hohen Tatverdachts offenbar nicht weiter behelligt. Das veranlasste uns, gegen alle, die in Oradour eingesetzt waren, die Ermittlungen wieder aufzunehmen oder neu zu beginnen. Bei der Staatsanwaltschaft Dortmund waren bereits in den 1980er Jahren Ermittlungen dazu anhängig. Außerdem wohnen zwei der Tatverdächtigen in NRW. Da wir als NRW-Zentralstelle für die Bearbeitung von NS-Verbrechen für das ganze Land zuständig sind, haben wir die Ermittlungen übernommen.

WDR.de: Wo wohnen die sechs beschuldigten Männer?

Brendel: Die Verdächtigen leben in Köln, im Raum Bielefeld, in der Nähe von Berlin, im Großraum Hannover und bei Darmstadt.

Wir haben in den Unterlagen Listen gefunden, auf denen die rund 100 Angehörigen der dritten Kompanie zur Tatzeit verzeichnet sind. Anhand dieser Listen haben wir bei der Berliner Auskunftsstelle zur Wehrmacht sämtliche Personalien und Wohnsitze von damals überprüft. Über die historischen Unterlagen sind wir dann zu den aktuellen Wohnorten gelangt und haben festgestellt, wer von den Beteiligten noch lebt.

WDR.de: Was wird ihnen vorgeworfen?

Brendel: Sie gehörten alle zur dritten Kompanie, die in Oradour eingesetzt war. Dort wurden am 10. Juni 1944 die Einwohner des Ortes auf dem Marktplatz zusammengetrieben. Die Frauen und Kinder hat man in die Kirche gesperrt. Die Männer wurden in Gruppen auf verschiedene Scheunen verteilt. Das Zeichen für den Beginn des Massakers war ein Schuss des Kompaniechefs in die Luft. Daraufhin wurden die Männer in den Scheunen erschossen. Gleichzeitig wurde in das Innere der Kirche gefeuert und dort ein Sprengsatz gezündet. Als man feststellte, dass noch nicht alle Frauen und Kinder tot waren, wurde die Kirche in Brand gesetzt. 642 Menschen wurden ermordet.

Die sechs Beschuldigten waren zur Tatzeit 18 beziehungsweise 19 Jahre alt. Damit gehörten sie damals zu den niederen Befehlsrängen. Die Kompanieangehörigen, die in Oradour eingesetzt waren, hatten unterschiedliche Funktionen. Einige waren mit Absperraufgaben betraut, andere mit Bewachungsaufgaben. Welche Aufgaben die sechs beschuldigten Männer hatten, können wir im Augenblick noch nicht sagen. Allen wird jedoch die Beteiligung am Massaker in Oradour vorgeworfen. Auch Beihilfe ist ein möglicher Vorwurf. Denn auch durch die Absperrung des Dorfes oder die Bewachung der Gefangenen wurde die Haupttat gefördert. Das setzt aber voraus, dass derjenige, der diese Förderung vorgenommen hat, auch wusste, was im Ort passiert. Und das müssen wir konkret nachweisen.

WDR.de: Was diente als Rechfertigung für das Massaker?

Brendel: Anlass soll die Gefangennahme eines SS-Sturmbannführers durch französische Widerstandskämpfer gewesen sein. Die Entführung soll am Abend des 9. Juni 1944 stattgefunden haben; und der angeblich in Oradour festgehaltene Sturmbannführer soll ein Freund des Kommandeurs des ersten Bataillons gewesen sein. Hinweise auf diesen Sachverhalt hat es nach unserer Ansicht aber nie gegeben. Daraufhin ist die dritte Kompanie nach Oradour gezogen und hat dort das Massaker verübt.

WDR.de: Nun wurden die Wohnungen der sechs Beschuldigten durchsucht, aber keine Beweismittel gefunden. Sind die Ermittlungen damit am Ende?

Brendel: Wir haben zwar keine Tagebücher, Dokumente oder Fotos aus der damaligen Zeit sicherstellen können und die Beschuldigten bestreiten eine Tatbeteiligung. Aber wir sind erst in der Mitte der Ermittlungen. Wir werden jetzt erstmal abwarten, was die Überprüfung der Vernehmungsfähigkeiten der 85 und 86 Jahre alten Männer ergibt. Darüber hinaus werden wir noch weitere Unterlagen auswerten. In Frankreich sind früher bereits Prozesse wegen Oradour geführt worden. Die Unterlagen von damals werden wir nun daraufhin überprüfen, ob es darin Hinweise auf die sechs Beschuldigten gibt. Aus diesen Schritten wird sich das weitere Vorgehen ergeben.

WDR.de: Was hätten die Männer als Strafe zu erwarten?

Brendel: Mord, auch Beihilfe zum Mord, verjährt nicht. Dadurch müssen diese Täter im Falle einer Verurteilung mit einer Freiheitsstrafe rechnen. Ob den Tatverdächtigen angesichts ihres hohen Alters noch der Prozess gemacht wird, hängt von ihrem Gesundheitszustand ab. Unabhängig davon ist es aber wichtig, gerade Täter eines solchen Massakers zur Rechenschaft zu ziehen.

Das Interview führte Dominik Reinle.