Die Geschichte der zivilen Nutzung der Atomkraft beginnt im Kalten Krieg: 1954 geht im sowjetischen Obninsk bei Moskau das erste Atomkraftwerk der Erde in Betrieb, das Strom für ein öffentliches Netz liefert. Im Jahr darauf zieht der Westen nach und baut in Großbritannien mit "Calder Hall" das weltweit erste Atomkraftwerk, das für die kommerzielle Stromproduktion eingesetzt wird. Sowohl im Osten wie im Westen herrscht der Glaube an die Beherrschbarkeit der Atomkraft: Sie soll die Energieversorgung auf Jahrhunderte hinaus sichern. Trotz dieser Gemeinsamkeit bekämpfen sich beide Seiten propagandistisch. Die schlichte Ideologie der DDR-Obrigkeit lautet beispielsweise: Atomkraft ist gefährlich, wenn sie in der kapitalistischen Waffenindustrie genutzt wird; Atomkraft ist gut, wenn sie der Energieerzeugung im Sozialismus dient. DDR-Sänger Ernst Busch dichtet - in Anspielung auf den amerikanischen Atombomben-Abwurf auf Hiroshima - damals: "Ami go home, spalte für den Frieden dein Atom."
"Für die Bedürfnisse der Volkswirtschaft"
In Deutschland haben die Alliierten die Kernforschung nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst verboten. Sie ist erst wieder nach Aufhebung des entsprechenden Kontrollratsgesetzes in den 1950er Jahren möglich. Die DDR schließt daraufhin 1955 mit der Sowjetunion einen Vertrag über Hilfeleistungen bei "der Nutzung der Atomenergie für die Bedürfnisse der Volkswirtschaft". In Rossendorf bei Dresden entsteht das Zentralinstitut für Kernforschung. 1957 wird dort ein Forschungsreaktor in Betrieb genommen. Im selben Jahr schließen Moskau und Ostberlin einen Vertrag über den Bau eines Atomkraftwerks im brandenburgischen Rheinsberg, etwa 60 Kilometer nördlich von Berlin. Ab 1980, so lautet die Prognose, soll jährlich ein Kernkraftwerk in Betrieb genommen werden.
Anfangs versucht die DDR, mit Unterstützung der Sowjetunion eigene Druckwasser-Reaktoren zu entwickeln. Doch die Versuche werden bald abgebrochen. Stattdessen beschließt das ostdeutsche Politbüro den Import kompletter Atomkraftwerke aus der Sowjetunion.
Bauzeit um fünf Jahre überschritten
Am 9. Mai 1966 wird das Atomkraftwerk Rheinsberg eingeweiht - fünf Jahre später, als ursprünglich geplant. Aber das erwähnt Klaus Siebold, DDR-Minister für Grundstoffenergie, in seiner Rede nicht. Stattdessen rühmt er die Sicherheit der Anlage: "Die inzwischen gewonnenen Erfahrungen haben gezeigt, dass diese hohen Sicherheitsvorkehrungen für weitere Kernkraftwerke nicht erforderlich sind, zumindest nicht in diesem Maße." Der Reaktor in Rheinsberg erbringt eine Leistung von 70 Megawatt. Nach heutigen Maßstäben ein kleines Kraftwerk.
Die Bevölkerung fühlt sich durch das Atomkraftwerk nicht gestört. Proteste gegen die Errichtung sind nicht überliefert. Erst ab Mitte der 1980er Jahre engagiert sich ein kirchlicher Arbeitskreis in der Umgebung des Rheinberger Kraftwerks gegen Kernenergie. Die Resonanz ist gering. Dafür steigen die Touristenzahlen: Am Rheinsberger See ist ein Ferienheim der Gewerkschaft errichtet worden. Aus dem See bezieht das Kraftwerk sein Kühlwasser, das - um zehn Grad erwärmt - wieder in das Gewässer zurückgeleitet wird. Die Zahl der Einwohner von Rheinsberg verdoppelt sich fast. Die Beschäftigten im Kraftwerk werden mit Neubauwohnungen gelockt.
Rückbau des Reaktors
Nach der Wende wird das erste Atomkraftwerk der DDR im Juni 1990 vom Netz genommen - zwei Jahre früher als ursprünglich geplant. Es genügt den gängigen Sicherheitsstandards nicht. Fünf Jahre später wird mit dem Rückbau begonnen. Die verstrahlten Teile des Kraftwerkes werden bis 1998 nach Morsleben gebracht. Der wesentlich höher belastete Abfall kommt danach in das Zwischenlager Nord nach Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern. Den wesentlichen Teil des Reaktors wollen die für das Atomkraftwerk zuständigen Energiewerke Nord bis 2014 abbauen, zwei Jahre später als vorgesehen. Übrig sind dann immer noch die Gebäude der Anlage, die später ebenfalls abgerissen werden sollen. Bisher sind für den gesamten Rückbau 420 Millionen Euro eingeplant.
Stand: 09.05.2011
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