Berlin, 18. März 2012: Gegen 14.30 Uhr tritt Joachim Gauck im Bundestag ans Rednerpult. Seine Stimme hat er nicht so recht unter Kontrolle, als er ruft: "Was für ein schöner Sonntag!" Die über 1.000 Delegierten der Bundesversammlung applaudieren. Eine große Mehrheit von ihnen hat den 72-jährigen früheren Pastor aus Rostock kurz zuvor zum elften Bundespräsidenten gewählt. Zwei Jahre zuvor ist Gauck zum ersten Mal angetreten, damals aber gescheitert. Dass es nun geklappt hat, ist die Folge einer Machtprobe zwischen den Parteien und zweier Rücktritte.
Die Vorgeschichte: 2004 regieren SPD und Grüne. Bundespräsident Johannes Rau (SPD) tritt nicht noch einmal an. Denn in der Bundesversammlung haben Union und Liberale eine knappe Mehrheit. Deshalb treffen sich Anfang März die drei Parteichefs Angela Merkel (CDU), Edmund Stoiber (CSU) und Guido Westerwelle (FDP), um sich auf einen Kandidaten zu einigen. Doch Merkels und Stoibers Vorschlag, Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) zu nominieren, scheitert an Westerwelle. Dieser spricht sich für Horst Köhler (CDU), den Direktor des Internationalen Währungsfonds aus - und setzt sich durch.
Köhler stolpert über Interview
Im Mai 2004 wird Köhler im ersten Wahlgang mit knapper Mehrheit zum neunten Bundespräsidenten gewählt. Fünf Jahre später wird er wiedergewählt. Er hat zwar in der Bevölkerung Zustimmungswerte von über 80 Prozent, in der Politik fehlt ihm allerdings der Rückhalt. Mal mischt er sich zu viel ein, manchmal zu wenig - finden Regierung und Opposition je nach Anlass. Ende Mai 2010 wird ihm ein Interview zum Verhängnis. Auf dem Rückflug von Afghanistan, wo er die dort eingesetzten Bundeswehrsoldaten besucht hat, sagt Köhler, "dass im Zweifel, im Notfall, auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren."
Der Aufruhr ist enorm. Die Kritik "lässt den notwendigen Respekt für mein Amt vermissen", sagt Köhler am 31. Mai 2010 und tritt mit sofortiger Wirkung zurück. Drei Tage später präsentiert Merkel den Nachfolger: Christian Wulff (CDU), Ministerpräsident in Niedersachsen. SPD und Grüne schlagen Gauck vor, den früheren Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde. Trotz klarer Mehrheitsverhältnisse schafft es Wulff erst im dritten Wahlgang, nach über neun Stunden.
Wulff wird Vorteilsnahme vorgeworfen
Zunächst läuft es für den zehnten Bundespräsidenten gut. Christian und Bettina Wulff gelten als Glamour-Paar. Schon in Hannover hat die "Bild"-Zeitung die beiden eng begleitet, nun gibt es noch schönere Bilder. Doch dann hält Wulff die Boulevard-Medien auf Distanz. "Das hat 'Bild' sehr übel genommen und hat angefangen, Material gegen ihn zu sammeln", sagt ARD-Journalist Michael Götschenberg, der ein Buch über die Wulff-Affäre geschrieben hat. Mehrere Medien berichten, Wulff habe sich unter anderem Ferienaufenthalte bezahlen lassen. Als die Staatsanwaltschaft Hannover Ermittlungen ankündigt, tritt Wulff am 17. Februar 2012 zurück. Zwei Jahre später wird er freigesprochen.
Merkel muss wieder unerwartet einen neuen Präsidenten suchen. Wieder fährt ihr die FDP in die Parade. Als SPD und Grüne erneut ihren Kandidaten Gauck anbieten, schließt sich ihnen die FDP an. Die Kanzlerin präsentiert - einmal mehr - den Kandidaten der anderen als ihren eigenen. Gauck selbst gibt sich überrascht: "Ich komme aus dem Flieger und war im Taxi, als die Frau Bundeskanzlerin mich erreicht hat. Ich bin noch nicht einmal gewaschen." Als er am Morgen nach der Wahl aus dem Fenster auf die Straße schaut, sieht er große weiße Buchstaben: "Was für ein schöner Montag!", hat jemand auf den Gehsteig gepinselt.
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Stichtag am 19.03.2017: Vor 85 Jahren: Harbour Bridge in Sidney eröffnet