"An das deutsche Volk!" Kaiser Wilhelm II. steht vor einem großen Aufnahmetrichter und lässt seine Worte auf die Wachswalze eines Phonographen bannen. "Man verlangt, dass wir mit verschränkten Armen zusehen, wie unsere Feinde sich zu tückischem Überfall rüsten!" Immer wieder setzt der Kaiser an, um möglichst markig zu klingen. "Darum auf! Zu den Waffen!" Es ist das Jahr 1918, der Erste Weltkrieg ist so gut wie verloren. Trotzdem zeichnet Wilhelm II. seine Rede von 1914 auf, die damals in Zeitungen veröffentlicht wurde, nachdem er Russland den Krieg erklärt hatte. Wichtiger als die Millionen Toten ist ihm nun offenbar sein Platz in der Geschichte.
"Wilhelm II. war sicherlich der erste deutsche Medienkaiser", sagt Sönke Neitzel, Professor für Militärgeschichte an der Universität Potsdam. "Insofern war er modern." Auf die Inszenierung seiner selbst habe er großen Wert gelegt. "Wilhelm II. war ein nervöser Kaiser. Er war immer auf Achse, er war hyperaktiv - er brauchte den öffentlichen Auftritt, den Beifall." Seine Mutter, Prinzessin Victoria, scheint zu wissen, weshalb das so ist: "Glauben Sie nur nicht, dass mein Sohn etwas aus irgendeinem anderen Motiv als dem der Eitelkeit tut!"
Mit 29 Jahren auf den Thron
Zur Welt kommt Preußens Thronfolger am 27. Januar 1859 in Kronprinzenpalais in Berlin. Bei der Geburt wird Wilhelms linker Arm eingeklemmt und bleibt gelähmt. "Die Behinderung fällt in eine Zeit des Sozialdarwinismus: eine Zeit, in der das Starke überlebt, das Schwache aussterben muss." Wer einmal oberster Heerführer werden soll, muss darum besonders schneidig sein. Trotz der Lähmung lernt Wilhelm reiten und schießen - unter der strengen Anleitung des Calvinisten Georg Hinzpeter: "Bei meinem Versuch, wirklichen Einfluss über den Geist meines Zöglings zu gewinnen, darf ich keinen Widerspruch erfahren!" Auch die Mutter ist unerbittlich: Macht Wilhelm in den Briefen an seine Mutter zu viele Rechtschreibfehler, schickt sie ihn zur Korrektur zurück. "Ich hatte keine Mutterliebe", resümiert Wilhelm II. später.
1888 wird der Prinz zum Kaiser - nachdem sein Großvater, Wilhelm I., und sein todkranker Vater, Friedrich III., im selben Jahr gestorben sind. Der 29-jährige Wilhelm verspricht: "Zu Großem sind wir noch bestimmt - und herrlichen Tagen führe ich euch entgegen!" Er träumt von einem Kolonialreich, legt sich eine Flotte zu und will den Briten Konkurrenz machen. Dabei stören Reichskanzler Otto von Bismarck und seine Politik des europäischen Ausgleichs. Wilhelm II. drängt ihn aus dem Amt: "Ich will mein eigener Kanzler sein!"Es dreht sich bald alles um seine Person: Bis zu sechs Mal am Tag wechselt der Kaiser seine Uniformen, einige hat er selbst entworfen. "Alle Tage Maskenball!", kritisiert selbst sein Berater Philipp Fürst zu Eulenburg.
Gratulation an Hitler
Als die Briten Wilhelms maritime Muskelspiele als Gefahr für ihre Vormachtstellung sehen, schäumt der Kaiser: "Eine bodenlose Unverschämtheit! Die deutsche Flotte ist gegen niemanden gebaut!" Worauf der Konflikt hinauslaufen kann, ist aber durchaus klar: "Wollen sie den Krieg, so mögen sie ihn anfangen! Wir fürchten ihn nicht." Das beweist Deutschland im Sommer 1914: Nach dem Attentat von Sarajewo drängen die deutschen Militärs als Verbündete von Österreich-Ungarn auf eine zeitnahe Reaktion. Da sie an einen schnellen Sieg im Westen glauben, erklären sie auch Frankreich, das mit Russland verbündet ist, den Krieg.
Während des Krieges verliert Wilhelm II. zunehmend Einfluss, bis seine Generäle ihn endgültig kaltstellen - obwohl er im Großen Hauptquartier in Frontnähe ständig Präsenz zeigt: "Wer sich in Deutschland einbildet, ich führe das Heer, der irrt sich! Ich trinke Tee und säge Holz." Nach seiner Abdankung 1918 geht er ins Exil nach Holland. In seinem Schloss Haus Doorn schmollt der Kaiser: "Kein Mensch ist mir dankbar!" Er fällt Bäume, sammelt Wetterdaten und lässt sich weiterhin mit "Seine Majestät" ansprechen. Als 1940 die Wehrmacht Paris einnimmt, gratuliert Wilhelm II. telegrafisch Adolf Hitler. Seine Hoffnung, die Nationalsozialisten würden ihn wieder einsetzen, wird nicht erfüllt. Wilhelm II. stirbt am 4. Juni 1941 in Doorn an einer Lungenembolie. Auf Hitlers Befehl wird er bei seinem Wohnsitz mit militärischen Ehren beigesetzt.
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