Nach dem Mauerfall am 9. November 1989 verläuft die deutsche Geschichte wie im Zeitraffer. Im Frühling 1990 wählt die DDR zum ersten Mal ein freies Parlament. Im Sommer kommt die D-Mark nach Ostdeutschland, dann folgt der Einigungsvertrag. Im Herbst beginnt der Wahlkampf für das erste gesamtdeutsche Parlament im Hinblick auf den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990. Das versetzt die Parteienlandschaft in Bewegung: Die CDU bietet Teilen der DDR-Bürgerrechtsbewegung eine neue Heimat, aber auch zwei regimetreuen Blockparteien. Die SPD vereinigt sich mit der Sozialdemokratischen Partei der DDR, die zu Wendezeiten von Oppositionellen gegründet worden ist.
ie Grünen hingegen vereinbaren nur eine Listenverbindung mit dem "Bündnis 90", einem Zusammenschluss von Gruppen aus der DDR-Menschenrechts- und Umweltbewegung. Die West- und Ostgrünen fusionieren erst 1993. Das rächt sich bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl am 2. Dezember 1990: "Bündnis 90/Die Grünen" landen im Osten bei 6,2 Prozent, die Ur-Grünen im Westen nur bei 4,8 Prozent. Da damals die Fünf-Prozent-Hürde aufgrund einer Sonderregelung für West und Ost getrennt gilt, schaffen es die West-Grünen nicht in den Bundestag.
Schwarz-gelbe Koalition gewinnt
Klarer Sieger der Wahl ist der "Kanzler der Einheit", Helmut Kohl (CDU). Sein Regierungsbündnis von Union und FDP erreicht fast 55 Prozent. Herausforderer Oskar Lafontaine (SPD) hingegen scheitert: Der Stimmenanteil der SPD sinkt von 37 auf 33,5 Prozent. Dafür gelingt der PDS, der SED-Nachfolgepartei, mit 11,1 Prozent im Wahlgebiet Ost den Parlamentseinzug.
Der neu gewählte Bundestag konstituiert sich am 20. Dezember 1990 im Berliner Reichstag - und nicht an seinem damaligen Sitz in Bonn. Statt wie bisher 525 Abgeordnete versammeln sich nun 662 Volksvertreter. Der frühere Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) eröffnet als Alterspräsident die erste Sitzung: "Für uns in Deutschland geht es jetzt darum, mit welchem Inhalt wir das gemeinsame Gehäuse füllen, nicht nur materiell." Wichtig sei, dass man sich dabei zuhören und aufeinander zugehen möge. "Mauern in den Köpfen stehen manchmal länger als die, die aus Betonklötzen errichtet sind." Er bleibe bei seinem Rat, "zusammenwachsen zu lassen, was zusammengehört", so Brandt. "Abgeschlossen ist dieser Prozess erst, wenn wir nicht mehr wissen, wer die neuen und wer die alten Bundesbürger sind."
Süssmuth ruft zu Solidarität auf
Brandt empfiehlt den Abgeordneten, innerhalb des ersten Halbjahres 1991 darüber entscheiden, ob der Bundestag seinen Sitz in Berlin nehmen und ob Berlin die Funktion der Hauptstadt Deutschland ausüben solle. Die mit großer Mehrheit wiedergewählte Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) beschränkt sich in ihrer Rede - bezogen auf Brandts Berlin-Vorschlag - auf den Hinweis, "möglichst bald" zu einem Ergebnis zu kommen. Sie spricht sich zudem für Opfer zugunsten der östlichen Teile Deutschlands aus. Im Westen müssten Vorhaben zurückgestellt werden, um das Notwendige im Osten zu realisieren.
In der ersten gesamtdeutschen Bundestagssitzung beantragen "Bündnis 90/Die Grünen" und PDS, die Mindestzahl an Abgeordneten herabzusetzen, die notwendig sind, um den Fraktionsstatus zu bekommen. Sie kommen mit acht beziehungsweise 17 Mandaten zum Beispiel nicht in den Genuss zusätzlicher Finanzmittel und Mitspracherechte. Doch ihre Anträge werden von der Mehrheit von CDU/CSU, SPD und FDP erwartungsgemäß abgelehnt.
Stand: 20.12.2015
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