Im Juni 1940 überrollt die Deutsche Wehrmacht Frankreich. Millionen Menschen fliehen vor den deutschen Truppen in den unbesetzten Süden des Landes, die sogenannte Zone libre. Doch auch dort wird die Demokratie abgeschafft: Am 10. Juli 1940 lässt sich Marschall Henri Philippe Pétain, französischer Kriegsheld des Ersten Weltkriegs, im Kurort Vichy per Ermächtigungsgesetz mit diktatorischen Vollmachten ausstatten. Das Regime von deutschen Gnaden kündigt ein massives Vorgehen gegen Juden, Republikaner, Linke und unerwünschte Ausländer an. Eine spezielle Polizei-Miliz wird gegründet. Zu diesem Zeitpunkt beginnt auch das, was später als "Wunder von Dieulefit" bezeichnet wird: ein organisierter, ziviler Rettungswiderstand ohne Waffen.
Das Töpfer- und Textilstädtchen Dieulefit - übersetzt: "Gott hat's gemacht" - hat einen Ortskern aus dem 13. Jahrhundert. Es liegt 30 Kilometer östlich der Rhône, wo das Voralpenland in die Provence übergeht. Der weltoffene Luftkurort mit seinen 3.300 Einwohnern zieht damals Intellektuelle und Künstler an. Geistiges Zentrum ist das Internat von Beauvallon, das von drei Frauen geleitet wird. Marguerite Soubeyrand, Catherine Krafft und Simone Monnier - die gemeinsam in einer lesbischen "Menage à trois" leben - haben eine Reformschule nach dem Vorbild von Summerhill und Montessori gegründet. Sie nehmen zunächst Kinder von Flüchtlingen aus dem Spanischen Bürgerkrieg auf, dann jüdische Kinder und Kinder von Widerstandskämpfern.
Keine einzige Denunziation
Die drei Frauen prägen die Atmosphäre in Dieulefit und motivieren andere, sich ebenfalls zu engagieren. Zum Beispiel Jeanne Barnier, damals Sekretärin des Bürgermeisters: "Irgendwann stand Marguerite Soubeyrand plötzlich bei uns im Büro und sagte: 'Es sind eine Menge Leute bei mir, die versteckt werden müssen. Ich werde es irgendwie schaffen - und Du, Du wirst mir falsche Papiere machen!'" Zunächst zögert Barnier. "Man hatte ihr beigebracht, nicht zu lügen, loyal zu sein", so Historiker Bernard Delpal. "Aber nachdem sie den Pastor befragt hat, entscheidet sie sich, mitzumachen." Sie habe den Satz gesagt: "Das Schwierigste ist nicht, seine Pflicht zu tun - das Schwierigste ist zu wissen, was seine Pflicht ist."
Auch zwei deutsche Kommunisten, die auf der Flucht vor der Gestapo auf einem Bauernhof der Gegend Unterschlupf gefunden haben, spielen eine wichtige Rolle. Ella Schwarz und Hermann Nuding gelingt es, die Bauern der Umgebung zu überzeugen, ihre Ernte mit den vielen Flüchtlingen zu teilen. Bis 1944 werden in Dieulefit 1.500 Flüchtlinge versteckt: französische und deutsche Juden, spanische Republikaner und andere politisch Verfolgte. Vier Jahre lang gibt es keine einzige Denunziation.
Zufluchtsort mit Tradition
Schon in der Zeit der Hugenottenverfolgung im 17. Jahrhundert ist Dieulefit ein Zufluchtsort für protestantische Flüchtlinge. Auf dem Friedhof liegen denn auch Katholiken und Protestanten. Das sorgt für ein Klima der Toleranz und positiven Anpassungsdruck. "Vielleicht hätte es Leute gegeben, die andere denunziert hätten", sagt Historiker Delpal. Das Vichy-Regime habe für jeden verratenen Juden Geld bezahlt und es habe viele arme Leute gegeben. "Aber es ist nichts passiert. Das kann man soziale Kontrolle nennen."
Am 21. August 1944 ist in Dieulefit der Zweite Weltkrieg vorbei. Die Amerikaner befreien die Stadt. Zu den Geretteten gehört auch Frankreichs Dichter Louis Aragon, der sich sowohl bei Ella Schwarz und Hermann Nuding als auch in Beauvallon versteckt hat: "Ihr habt das Licht der Freiheit bewahrt, als der Arm des Würgeengels nach uns griff."
Stand: 10.07.2015
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