Eine Woche vor Beginn der Vorrunde im olympischen Tischtennis-Turnier am 27. Juli hat Boll (Borussia Düsseldorf) noch nicht die Form, die er sich für seinen letzten großen Auftritt auf internationaler Bühne wünscht. Dass der einstige Weltranglistenerste, der als Europäer hinter den im Tischtennis-Sport dominierenden Chinesen mit Team-Vizetiteln beim Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften und als zweifacher WM-Dritter alles erreicht hat, vor Paris (Frankreich) nervös wird, erscheint unwahrscheinlich. Aber sein Fazit nach der Paris-Challenge des Deutschen Tischtennis-Bundes (DTTB) in Düsseldorf lautete: "Ich war im Kopf einfach schlecht."
Einzelniederlagen gegen Franziska und Meng
Nun war der Härtetest in Düsseldorf nur ein interner, und seine Topform ruft man besser im Wettkampf als bei der Generalprobe ab. Aber wenn ein erfahrener Spieler wie Boll kurz vor so einem Turnier "noch viel Feintuning" als nötig erachtet, ist das bemerkenswert. "In meinen Topspins war sehr, sehr wenig Qualität. Ich muss mir Gedanken machen, was ich taktisch und in meinen Bewegungen anders mache", sagte Boll. Zuvor hatte er gegen Olympia-Ersatzspieler Patrick Franziska (1. FC Saarbrücken) und Nationalspieler Fanbo Meng (TTC Fulda) jeweils in vier Sätzen verloren.
Entsprechend enttäuscht und unzufrieden zeigte sich das deutsche Tischtennis-Idol, "dass ich die Spiele nicht besser nutzen konnte". Aber anders als das bereits am Sonntag nach Paris gereiste Einzel-Duo mit Europameister Dang Qiu (Düsseldorf) und dem Tokio-Dritten Dimitrij Ovtcharov (Fulda) hat der nur fürs Team gemeldete Boll noch mehr Zeit für sein Feintuning. Er und Franziska treffen erst Anfang August zum olympischen Mannschaftswettbewerb in der französischen Hauptstadt ein. Bis zur ihrer Abfahrt bereiten sie sich gemeinsam in Bolls persönlicher Trainingshalle in Höchst vor.
Boll fehlt nach intensiver Vorbereitung die Frische
Boll erklärte sich die Mängel in seinem Spiel mit der enormen Beanspruchung im Olympia-Vorfeld. "Ich hatte schon gehofft, dass es etwas besser läuft. Aber ich habe die letzten fünf Wochen oder noch mehr am absoluten Maximum trainiert, da hatte ich schon gewusst, dass etwas die Frische fehlen würde", sagte der 43-Jährige.
Bis zu seinem siebten Einsatz bei Sommerspielen wird Boll sich auch noch intensiv mit den Eigenschaften der speziell für Paris hergestellten Spielmaterialien beschäftigen: An dem eigens nach Höchst gelieferten Olympia-Tisch "muss ich mir vor allem Gedanken machen, wie ich mit den Bällen besser zurechtkomme. Bisher komme ich mit den neuen Exemplaren der Bälle, die wohl auch in Paris benutzt werden, noch nicht richtig klar", sagte Boll.
Trotz dieser Probleme und der misslungenen Generalprobe ist eine nachhaltige Verunsicherung Bolls angesichts seiner Routine unwahrscheinlich. Seine historische siebte Olympiateilnahme und die Aussicht auf sein letztes großes Turnier helfen ihm nach eigenen Bekunden, im Training den nötigen Fleiß aufzubringen, weil er genau wisse, dass es nach Paris ruhiger wird, auch wenn er für Borussia Düsseldorf national weiterspielt. "Aber ansonsten bin ich in meinem Tunnel und denke noch nicht allzu oft daran. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen."
Franziska als aktuell bester deutscher Spieler nur Ersatzmann
Dass Boll seine beeindruckende Karriere ohne olympische Einzelmedaille beenden wird, ist bereits klar. Aber nach zwei zweiten Plätzen (Tokio 2020, Peking 2008) und zwei Bronzemedaillen (Rio de Janeiro 2016, London 2012) wäre Edelmetall mit der Mannschaft der denkbar schönste Abschied für Boll von der internationalen Bühne. Dafür müsse es "schon sehr gut laufen" und alle wüssten, "wie stark die Konkurrenz ist". Doch: "Wir werden auf jeden Fall alles dafür geben", so Boll.
Boll wird wohl auch deshalb alles dafür geben, weil der aktuell laut Weltrangliste beste deutsche Tischtennisspieler für ihn in Paris auf der Ersatzbank Platz nehmen muss. Franziska steht als Weltranglisten-Zehnter derzeit sogar vor den frühzeitig gesetzten deutschen Paris-Fahrern Dang Qiu (11./Düsseldorf)) und Dimitrij Ovtcharov (14./Fulda). Boll folgt auf Rang 24, den er sich nach langer Verletzungspause in diesem Jahr mit starken Ergebnissen auch gegen Topspieler erkämpft hat.
Die Gedanken an die Enttäuschung Franziskas über seine Nicht-Nominierung wird Boll in Paris genauso zur Seite drängen müssen wie die Probleme mit Topspins und Spielmaterialien. Um sich den Medaillentraum erfüllen zu können, sollte er am besten in dem "Tunnel" bleiben, wo er die meiste Zeit seiner Karriere verbracht hat - am Ausgang wartete auf ihn sehr oft der Erfolg.
Quelle: sid/red