Walter Jens, mit nach hinten gekämmten, weißen Haaren redet eindringlich gestikulierend, seine rechte Hand ist mit ausgestrecktem Zeigefinder erhoben, Aufnahme aus dem Jahr 2005

9. Juni 2013 - Walter Jens stirbt in Tübingen

Als begnadeter Rhetoriker und Schriftsteller war Walter Jens ein Mann des geschriebenen und gesprochenen Worts - umso tragischer war sein Lebensende, das im Vergessen mündete.

"Drei große Ziele, drei Pflichten hat der Redner: Erstens: Er muss überzeugen, nicht überreden. Zweitens: Er muss unterhalten. Und drittens: Er hat die Herzen zu bewegen", sagt Walter Jens. Ziele, die er in seinen Reden stets erfüllt. Als begnadeter Rhetoriker und feingeistiger Intellektueller mit klarem Kompass wird er zu einer moralischen Instanz in der Bundesrepublik.

Zwischen Redekunst und Fußball: Walter Jens starb vor 10 Jahren

WDR ZeitZeichen 09.06.2023 14:56 Min. Verfügbar bis 09.06.2099 WDR 5


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Studium statt Kriegsdienst

Geboren wird Walter Jens am 8. März 1923 in eine großbürgerliche Familie in Hamburg. Wegen eines Asthmaleidens muss er im Zweiten Weltkrieg nicht zum Kriegsdienst. Von 1941 bis 1945 studiert er klassische Philologie, promoviert bereits mit 21 Jahren. Nach dem Krieg bleibt er der Wissenschaft treu, geht nach Tübingen und übernimmt dort 1963 den bundesweit ersten Lehrstuhl für Rhetorik.

Zudem schreibt er Romane und Erzählungen. Jens wird Mitglied der legendären Gruppe 47, wo er sich als scharfzüngiger Kritiker profiliert.

Ein "Radikaldemokrat" in Mutlangen

"Radikaldemokrat" nennt Jens sich. Für seine politische Meinung steht er ein, zum Beispiel im September 1983. Da blockiert er sitzstreikend die Zufahrt zum US-Militärstützpunkt in Mutlangen. Mit seiner Frau Inge mischt er sich unter die Friedensbewegten, demonstriert gegen die Stationierung von Atomwaffen. Ebenfalls dabei sind Heinrich Böll und Günter Grass.

Der große, schlaksige Jens mit der eindringlichen Stimme ist einer, der nicht nur redet, sondern handelt. Der einsteht für seine Ideale. Damit markiert er die Fallhöhe, die seinen Absturz in der öffentlichen Wahrnehmung umso tiefer macht: 2003 schreckt die Öffentlichkeit die Nachricht auf, Walter Jens war Mitglied in der NSDAP! Jens sagt, er könne sich an keinen Mitgliedsantrag erinnern. Dann räumt er doch Fehler während der Nazi-Zeit ein, zum Beispiel, eine Rede über "entartete Literatur" gehalten und Thomas Mann diskreditiert zu haben. Ausgerechnet Thomas Mann, den er nach dem Krieg verehrt und dessen Roman "Der Zauberberg" er oft bei sich trägt.

Das "langsame Entschwinden"

2004 wird eine Demenz bei Walter Jens diagnostiziert. Für seinen Sohn Tilman Jens ist es eine Flucht vor der Auseinandersetzung mit der NSDAP-Mitgliedschaft. Nachzulesen in seinem Buch "Demenz. Abschied von meinem Vater". Es wird kontrovers diskutiert, von "Vatermord" ist die Rede, auch angesichts der vielen privaten Details.

Die Demenz verändert Walter Jens so sehr, dass seine Frau ernüchtert feststellt, er sei nicht mehr der Mann, den sie geheiratet habe. In ihrem Buch "Langsames Entschwinden" schildert Inge Jens seine letzten Lebensjahre. Walter Jens stirbt am 9. Juni 2013 in Tübingen.

Autor des Hörfunkbeitrags: Jürgen Werth
Redaktion: Gesa Rünker

Programmtipps:

ZeitZeichen auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 9. Juni 2023 an Walter Jens. Das ZeitZeichen gibt es auch als Podcast.

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