Wer an Russland denkt, denkt an Wald. Nicht zu Unrecht. Aber südlich der endlosen Taiga-Wälder erstreckt sich quer durch Russland die ebenso endlose Eurasische Steppe. Vom Schwarzen Meer bis nach China. Aus dem Flugzeug sieht sie aus "wie ein sehniges Stück gelb gewordenes Fleisch. Kupferfarbene Linien durchziehen wie dicke Schlangen den Sand." Die Steppe ist einer der beiden Helden von Oxana Wassjakinas gleichnamigem Roman.
Der andere ist ihr Vater: ein kleiner Gangster, dem irgendwann der Boden unter der Füßen zu heiß wurde in seiner sibirischen Heimat und der darum die einzige Qualifikation, die er hatte, zu seinem Beruf machte. Er wurde Trucker und fährt Jahr für Jahr zehntausende Kilometer kreuz und quer durch den Süden Russlands. Durch die Steppe, die er liebt, weil sie endlos ist und still und leer. Sie ist ein Zuhause.
Geboren wurde der Vater 1967 in Astrachan im Wolgadelta. Als die Sowjetunion zerfällt, lebt der junge Mann im fernen Sibirien und glaubt zu wissen, wie das gute Leben in der neuen, kapitalistischen Welt zu gewinnen ist. Wobei, ein großer Gangsterboss war der Vater nie, eher ein nützlicher Handlanger, der keine dummen Fragen stellte. Aber das reichte ein paar Jahre für das, was damals de facto Luxus und für den Großteil der Bevölkerung völlig unerreichbar war: genug zu Essen, ein Auto, ein Fernseher, ein Videorecorder. Außerdem: Pelzmäntel und Seidentücher für seine schöne junge Frau, auch wenn manche davon gestohlen waren.
Die Geschichte dieser Gangsterbraut, ihrer Mutter hatte Oxana Wassjakina im ersten Teil ihrer autofiktionalen Trilogie erzählt. "Die Wunde" erzählte aber auch, wie Wassjakina selbst den Weg aus der Provinz nach Moskau fand, wie sie dort zur Schriftstellerin wurde und ihre sexuelle Identität als offen lesbische Frau entdeckte. Doch das war später. Als der Vater die Familie Ende der 1990er Jahre Hals über Kopf verließ, war Wassjakina erst zehn Jahre alt. Als sie ihn zehn Jahre später wieder trifft und auf große LKW-Tour geht, ist der Vater ein Wrack.
Das harte Leben als Trucker, vor allem aber die Drogen und AIDS haben ihn ruiniert. Die Zähne sind ausgefallen, alles an ihm ist schwerfällig. Er erinnerte Wassjakina "an einem durch Blitzeinschlag getöteten Baum". Oxana Wassjakina kennt diesen Mann kaum. Aber er ist ihr Vater und sie will wissen, wie er wurde, was er war. Warum er im Schlaf schreit. Warum er die Mutter einst zu Brei prügelte. Warum er den Dichter Maxim Gorki liebt und die Lieder des Chansonniers Michail Krug.
Wie nebenbei erzählt Oxana Wassjakina damit eine ganz andere Geschichte Russlands der letzten 35 Jahre. Aus weiblicher Perspektive. Aus der Tiefe des Landes kommend. Und mit großer Zuneigung und Neugier für seine gepeinigten, bitteren, unbarmherzigen, lebendigen Menschen. Und für die Steppe. Es ist eine Freude!
Eine Rezension von Uli Hufen
Literaturangaben:
Oxana Wassjakina: Die Steppe
Aus dem Russischen von Maria Rajer
Blumenbar, 2024
268 Seiten, 24 Euro