Lesefrüchte
"Der Leuchtturm" von Jean-Pierre Abraham
Stand: 17.05.2024, 14:01 Uhr
Der schmale Fels etliche Kilometer vor der bretonischen Küste ragt nur bei Ebbe aus dem Wasser. Ar-Men heißt er auf Bretonisch – "der Stein". Seeleute nennen den abgeschiedenen und abweisenden Flecken inmitten der Fluten des Atlantiks und den Leuchtturm darauf die "Hölle der Höllen".
Hierhin zieht es Ende der 1950er Jahre den Schriftsteller Jean-Pierre-Abraham. Er bleibt einige Jahre als Leuchtturmwärter. 1967 erscheint das Buch "Der Leuchtturm", in dem er – basierend auf seinem Logbuch aus der Zeit auf Ar-Men – präzise und mit großer Intensität von seinen Erfahrungen erzählt: von der harten Arbeit auf dem Leuchtturm, der Einsamkeit und von Augenblicken des Glücks.
Zwei Männer versehen in der Abgeschiedenheit von Ar-Men ihren Dienst. Sie sprechen nicht viel, jeder ist die meiste Zeit für sich. Sie warten die Maschinen, observieren die Leuchtfeuer. Sie polieren das Messing, streichen Motoren, Rohrleitungen und Wände, reparieren zu Bruch gegangene Fensterscheiben. Der Leuchtturm muss verteidigt werden gegen Wind, Wellen, Feuchtigkeit.
Von November bis Mai eines unbestimmten Jahres reichen die Aufzeichnungen. Der Protokollant berichtet detailliert vom Alltag auf dem Leuchtturm. Er erzählt so zugleich von der Sehnsucht nach dem einfachen Leben "ohne Tand". Das Journal dient nicht zuletzt der Erforschung des eigenen Selbst, der inneren Abgründe, der Ängste und Hoffnungen. "Mit dem gewöhnlichen Leben habe ich nie etwas anzufangen gewusst", verrät der Autor an einer der wenigen Stellen, da Biografisches aufscheint.
In zwei Bildbänden blättert der Tagebuchschreiber in Stunden der Muße. Ihn fasziniert das Licht auf den Bildern Vermeers und der von innerer Einkehr bestimmte Alltag in einem Zisterzienserkloster. Die Parallelen sind augenfällig. Das Leben auf dem Leuchtturm hat für den Protokollanten etwas Mönchisches, wird bestimmt von der Suche nach einem tieferen Verständnis des Lebens. "Es geht darum, einen Ort zu finden, an dem man sich entfalten kann", hat Abraham einem Fernsehteam gesagt, das für eine Reportage auf Ar-Men war.
"Der Leuchtturm" erzählt eindrucksvoll vom riskanten Versuch eines Mannes, zum Kern der Existenz vorzudringen und dafür alles Überflüssige loszuwerden. Er setzt sich dafür äußerster Einsamkeit inmitten unkontrollierbarer Naturgewalten aus. Diese rigorose Suche nach dem richtigen Leben scheut nicht das Pathos, doch sie ist gewürzt mit feiner Ironie.
Eine Rezension von Holger Heimann
Literaturangaben:
Jean-Pierre Abraham: Der Leuchtturm
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Ingeborg Waldinger
Jung und Jung Verlag, 2024
192 Seiten, 22 Euro