Buchcover:  "Umlaufbahnen" von Samantha Harvey

Buch der Woche

"Umlaufbahnen" von Samantha Harvey

Stand: 03.01.2025, 11:56 Uhr

Rund um die Welt in 90 Minuten. 16 mal am Tag. Und dazu die großen Fragen der Menschheit: Wer sind wir? Was soll das? Und wo ist hier eigentlich oben? Samantha Harveys "Umlaufbahnen" ist kosmischen Wahrheiten auf der Spur, ganz sanft.

Seit 25 Jahren kreist die erheblich in die Jahre gekommene internationale Raumstation ISS um die Erde. Flughöhe ungefähr 400 Kilometer. Fluggeschwindigkeit ungefähr 27.000 km/h. Sechzehn mal am Tag umrundet die ISS die Erde, sechzehn mal am Tag geht für die Astronauten und Kosmonauten an Bord die Sonne auf und wieder unter.

Der Amerikaner Shaun, die Japanerin Chie, der Italiener Pietro, die Engländerin Nell und die beiden Russen Anton und Roman sind für viele Monate in dieser Raumstation eingeschlossen. Sie erledigen Tag für Tag dieselbe Arbeit. Sie versuchen, sich fit zu halten. Sie essen jeden Tag dasselbe und sind darauf trainiert, Konflikte zu vermeiden.

Nicht unbedingt Stoff für einen fesselnden Roman, könnte man meinen. Und vergäße doch das Entscheidende: im Zentrum der Umlaufbahnen liegt die Erde. Und die Erde ist das Schönste und Herrlichste, was es im Universum gibt. Weil sie lebt und weil sie unsere Heimat ist. Die Astronauten spüren das:

"Die Erde ist wie das Gesicht einer Angebeteten; sie beobachten, wie sie schläft und wie sie wacht, und verlieren sich in ihren alltäglichen Gewohnheiten. Die Erde ist eine Mutter, die darauf wartet, dass ihre Kinder zurückkehren, voller Geschichten und Begeisterung und Sehnsucht. Ihre Knochen etwas weniger dicht, die Gliedmaßen etwas dünner. Ihre Augen voller Eindrücke, die sich nur schwer in Worte fassen lassen."

Die Astronauten in Samantha Harveys Roman sehen etwas, was nur ganz wenige Menschen je sehen werden. Ganze Kontinente und Meere, Winde und Wolken und Stürme und Licht aller Art. Bei Nacht und bei Tag. Und Harvey beschreibt diese Herrlichkeiten unaufhörlich. Nature Writing aus dem Kosmos ist das - man liest und staunt und bemerkt, wie seltsam es ist, dass es das so jedenfalls noch nicht gab.

Aber da ist noch etwas anderes. In "Umlaufbahnen" geht es auch darum, wie sich das alles anfühlt für die Astronauten: Wie ist das, wenn es kein oben und unten gibt? Wenn Wände und Fußboden und Decke dasselbe sind? Wie fühlt es sich an, wenn man 400 km über der Erde außen an einer Raumstation hängt und eine Schraube festzieht? Wenn man monatelang mit 27.000 km/h durch den Kosmos rauscht und nie irgendwo ankommt? Und wie erklärt man das denen auf der Erde?

"Umlaufbahnen" gehört zu jener zweiten großen Traditionslinie der Weltraum-Literatur und des Weltraum-Kinos. Nicht die von Raumschiff Enterprise, in der es um Abenteuer und Begegnungen mit fernen Welten geht. Sondern jene von Stanislaw Lem und Stanley Kubrick, in der im Angesicht des ewigen Kosmos die großen Fragen der Menschheit verhandelt werden: Religion und Fortschritt, der Sinn des Lebens und das Wesen des Menschseins. Samantha Harvey denkt über diese Dinge nach und sie tut das auf eine ganz erstaunlich sanfte Art. Ohne Parolen.

Im Zentrum steht dabei vielleicht folgende Erkenntnis: Die Raumfahrt ist schon lange kein Inbegriff von Menschheitsoptimismus und Zukunftsvertrauen mehr, von der Euphorie der 1960er Jahre ist wenig übrig. Wir entdecken keine neuen Welten mehr, wir sind stattdessen dabei, die eine Welt, die wir haben, zu zerstören. Und gleichzeitig wissen wir, dass die Erde unfassbar schön ist und offensichtlich lebendig.

Und weil wir das wissen und die Erde doch zerstören, gibt es auch eine enorme Trauer. Für diese Schönheit und für diese Trauer Worte gefunden zu haben, das könnte der Grund sein für den erstaunlichen Erfolg, den dieser schmale, ungewöhnliche Roman gerade hat.

Eine Rezension von Uli Hufen

Literaturangaben:
Samantha Harvey: Umlaufbahnen
Aus dem Englischen von Julia Wolf
dtv, 2024
224 Seiten, 22 Euro