Bov Bjerg über "Der Vorweiner"

Autor im Gespräch

Bov Bjerg über "Der Vorweiner"

Stand: 01.09.2023, 11:57 Uhr

Bov Bjerg erfindet sich neu: Sein neuer Roman ist eine bissig-satirische Dystopie, die am Ende des 21. Jahrhunderts spielt. Die meisten Menschen haben die Fähigkeit zum Fühlen verloren und auch sonst weht ein unbarmherziger Wind.

Fast alle europäischen und außereuropäischen Staaten sind politisch gescheitert oder im durch die Erderwärmung gestiegenen Meer versunken. Was von Europa übrig ist, nennt sich Resteuropa. Der nördliche Teil wurde in mehreren Etappen mit einer 10 Meter dicken Betondecke angehoben, um das Land vor dem Meer zu schützen.

Die alten Städte sind daher einbetoniert, es gibt nun frische Städte wie Neuhamburg oder Neugreifswald. Das politische System nennt sich immer noch Demokratie, hat aber nicht mehr viel damit zu tun. Durch den Klimawandel wird das Land von einer Regengrenze durchzogen: Im einen Teil herrscht permanenter Regen, im anderen immerwährender Sonnenschein.

Es gibt eine Ober- und eine Niederschicht. Die Oberschicht übt akademische Berufe aus und ist von körperlicher Arbeit völlig entkoppelt. Die Niederschicht ist größtenteils im Dienstleistungsbereich tätig. Die Oberschicht hat keine Emotionen mehr. Damit dennoch um Personen getrauert werden kann, leisten sich die meisten sogenannte Vorweiner. Das sind Geflüchtete aus versunkenen Staaten, die noch fühlen können.

Die Vorweiner werden engagiert und verbringen mitunter Jahrzehnte bei der Ihnen zugewiesenen Person: Nur um bei deren Aschezerstreuung so herzerweichend zu weinen, dass auch die verhärteten anderen Gäste davon angesteckt werden. Die Hauptfigur Anna engagiert erst im Alter von 70 Jahren ihren Vorweiner aus den Niederlanden.

Bov Bjerg wählt dazu eine besondere Perspektive: Wir erfahren Annas Geschichte durch ihre Tochter Berta, die nach Annas Tod deren Leben und vor allem die letzten Monate zusammenfasst. Gleichzeitig berichtet sie auch aus ihrem eigenen Leben: Sie lebt im dauerverregneten Neuhamburg als freiberufliche Klickbeuterin. Ihr Job ist es, Nachrichten zu verfassen und sie ist besonders stolz, dass ihre Texte im Gegensatz zu anderen wenigstens ein Fünkchen Wahrheit enthalten.

Wie auch ihre Mutter ist Berta zu keinen tieferen Gefühlen in der Lage. Das macht sich auch in ihrer Art zu erzählen bemerkbar: Ohne einen Funken Mitgefühl schildert sie den Niedergang ihrer Mutter und deren Vorweiners.

Bjerg findet für Berta einen überzeugenden Sound: So könnte jemand in einigen Jahrzehnten denken und reden. Ziemlich schnoddrig und cool, mit einem gnadenlosen Blick auf sich und die Umwelt. Aber auch tief deprimierend und abstoßend in ihrer Gefühlsarmut.

Bjerg findet viele witzige und treffende Wortneuschöpfungen für diese ziemlich nahe Zukunft: Klickbeuterin, Sentenzengenerator, Zerstreuungsgemeinde. Zudem setzt er vor jedes Kapitel Triggerwarnungen, wie "schiefe Bilder" und "Spuren protestantischer Ethik".

Er denkt viele Entwicklungen, die sich in der Gegenwart bereits abzeichnen, konsequent weiter und treibt sie auf die Spitze. Das liest sich erstaunlich vergnüglich, hat aber auch – wie es sich für eine Dystopie gehört – einen subtilen bitteren Beigeschmack, der lange nachwirkt.

Eine Rezension von Lina Brünig

Bov Bjerg über "Der Vorweiner"

WDR 5 Bücher - Autoren im Gespräch 02.09.2023 10:57 Min. Verfügbar bis 31.08.2024 WDR 5


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Literaturangaben:
Bov Bjerg: Der Vorweiner
Claassen, 2023
240 Seiten, 24 Euro