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Buchcover: "Weil die Wunden Vögel werden. Landschaften der Ukraine"

Aktuelle Lyrik - Ein Gedicht

"Wenn wir die Schutzwesten abziehen" aus: "Weil die Wunden Vögel werden. Landschaften der Ukraine"

Stand: 21.11.2024, 17:03 Uhr

Die vorletzte Ausgabe, Nr. 295, der vierteljährlich erscheinenden Literaturzeitschrift "die horen" stellt der hiesigen buchaffinen Öffentlichkeit aktuelle ukrainische Lyrik und Literatur vor.

Das Heft mit dem Titel "weil die Wunden Vögel werden. Landschaften der Ukraine" zeichnet so ein facettenreiches Porträt der seelischen und künstlerischen Verfassung des Landes seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022. Dazu tragen auch eindrucksvolle Fotostrecken bei, die die Literaturzeitschrift bebildern. Sie zeigen, welch tiefe Spuren die Verheerungen des Krieges hinterlassen: verstümmelte Landschaften, junge Gesichter, in die sich das Kriegsgrauen eingeschrieben hat, verbarrikadierte Stadtbilder. Diese Fotos geben uns einen Eindruck davon, welch hohen Preis die Ukraine jeden Tag zahlt, um ihre Freiheit zu wahren. Die Veröffentlichung beeindruckt durch komplexes Textmaterial. So finden sich hier auch diverse Prosa-Stile, Romauszüge, ein Theaterdialog und tagebuchartige Notizen.

Die in dem Band zusammen getragenen Gedichte stammen aus der Feder von zehn Lyrikerinnen und Lyrikern. Anatolij Dnistrowyj, Artur Dron, Olena Herasymjuk, Ljuba Jakymtchuk, Halyna Kruk, Maksym Krywtsov, Hanna Osadko, Kerstin Preiwuß, Eugenia Senik, Julia Stachiwska. Bis auf die Deutsche Kerstin Preiwuß stammen sie alle aus der Ukraine. Maksym Krywtsov starb Anfang 2024 in der Region Charkiw und wurde nur 33 Jahre alt. Doch auch alle anderen hier versammelten Dichterinnen und Dichter sind unmittelbar vom Kriegsgeschehen betroffen. Sie beklagen getötete Angehörige, kämpfen selbst in der Armee oder mussten ihre Heimat verlassen. In "die horen. weil die Wunden Vögel werden. Landschaften der Ukraine" gewähren sie Einblicke in einen unvorstellbar gefährlichen, zermürbenden und Kräfte zehrenden Kriegsalltag.

"wie das Leben in einem Land war / das mit Raketen und Drohnen beschossen wurde / wie das Leben im stromlosen / wasserlosen Land war: dreimal ins Geschäft zu rennen / um den Zeitpunkt ohne Luftalarm zu erwischen / zweimal zum Friseur zu gehen / um die Frisur fertigschneiden zu lassen / nachdem der Strom wieder angestellt wurde"

Es ist ein Alltag in permanenter Gefahr, bei dem jeder Augenblick der letzte sein kann. Der Tod ist allgegenwärtig, kann jederzeit etwa in Form einer russischen Rakete über das kostbare Leben hereinbrechen. Dankbarkeit über die kleinen, friedlichen Glücksmomente in Gesellschaft ist da eine der möglichen Gefühlsreaktionen. Doch wird diese meist allzu schnell wieder eingeholt durch überwältigende Traurigkeit. Denn Krieg bedeutet Verlust. Von geliebten Menschen, von Sicherheit oder auch von Unschuld.

"So ein Glück, genau zu wissen, dass er nicht mehr anruft, ein Glück nicht zu träumen, ein Glück – den Menschen zu verabschieden und zu beerdigen, denn die Hoffnung ist eine Wunde, ein Salzbergwerk im Herzen, sie frisst und quält, quält und frisst"

Die Gedichte hier sind oft durchzogen von Kampf , Leid und Traumata, manchmal werden die Kriegsschrecken gar nicht direkt erwähnt, sondern schwingen vielmehr beiläufig mit. Sei es in Form brennender Unsicherheit, ob Freunde und Familie überhaupt noch am Leben sind. Sei es, dass Freude und Unbekümmertheit völlig abhandengekommen sind. Aus Söhnen werden Waisen, Jugendliche werden zu Erwachsenen, Frauen zu Witwen. Die ganze Normalität hat sich verschoben. Viele Gedichte versuchen da, Ordnung in das russisch herbeigeführte Chaos zu bringen, versuchen zu ordnen was nicht zu ordnen ist. Wie die Lyrikerinnen und Lyriker hier damit zu ringen haben, erlebtes Grauen zu verarbeiten oder darzustellen, damit konfrontiert uns gleich eines der ersten Gedichte:

"in meinem Land ist Krieg und die Bäume leiden / wie Menschen und Tiere / sie sind verkrümmt und verwundet / oft zerschnitten durch Splitter, von Kugeln zerrissen / ich kann sie nicht malen, denn ich habe sie nicht alle gesehen / ich finde keine richtigen Farben / um ihren Schrei einzufangen"

Dennoch stellen sich auf den folgenden gut 200 Seiten die hier versammelten Literaten genau dieser Aufgabe. Sie legen Zeugnis ab. Und sie tun dies auf sehr unterschiedliche Art und Weise. So zeigt „die horen. weil die Wunden Vögel werden. Landschaften der Ukraine“ eine äußerst vielfältige, vielschichtige und vielstimmige ukrainische Poesielandschaft. Von Verzweiflung ("Wer will dort leben, wo wir nicht überlebten?") bis hin zu kämpferischer Zuversicht: "so ist es jeden Morgen / auch dieser Krieg geht nicht ewig / wie auch der Winter der zurückweichen muss" oder auch: "doch ich sage dir gleich – die Ewigkeit dauert, solange es jene gibt, die in unsere Fußstapfen treten."

Von monolithisch karg, feierlich und ergriffen, von kraftvoll und bedeutungsschwer, von gegenständlich und drastisch bis hin zu rätselhaft, diffus verspielt, quirlig und sarkastisch ist da so gut wie alles an menschlichen Regungen vertreten, was man sich angesichts dieses furchtbaren Angriffskriegs und der erbitterten Verteidigung nur vorstellen kann. Immer aber sind die Gedichte hier von hoher Intensität, qualitativ hochwertig, aufrichtig, originell, einfallsreich und fantasievoll. Einige der hier versammelten Gedichte sind wahre Meisterwerke der zeitgenössischen Lyrik. Neben Berichterstattungen und Bewältigungsversuchen finden sich auch Appelle an die Welt:

"Europa / vergiss Gas und Licht nicht / nimm uns an wie schlechte Nachrichten / nimm uns an wie unangenehme Medizin / nimm uns an wie vorzeitige Geburtswehen / das, was geboren wird, wird dein Geschöpf sein / egal wie süß egal wie bitter".

Putins Ziel, die kulturelle Identität der Ukraine auszulöschen, scheitert zumindest hier glücklicherweise krachend. "weil die Wunden Vögel werden. Landschaften der Ukraine" ist ein kleiner, trauriger Triumph der ukrainischen Literatur, der Menschlichkeit und Kreativität. Eindrucksvolle Kunst kann noch unter den widrigsten Umständen entstehen. Mit dieser Ausgabe ist "die horen" eine engagierte, üppige Veröffentlichung und ein wichtiger Beitrag zur hiesigen Verbreitung aktueller ukrainischer Literatur und Lyrik gelungen. Essentiell und existentiell.

Eine Rezension von Moritz Holler

Literaturangaben:
weil die Wunden Vögel werden. Landschaften der Ukraine Zusammengestellt von Halyna Petrosaniak und Natalka Sniadanko Reihe: die horen.
Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik; Bd. 295, 69. Jahrgang
Wallstein Verlag, 208 Seiten, 40 z.T. farbige Abbildungen, 14 Euro