Der Lyriker, Prosaist, Essayist und Übersetzer Georges Haldas wurde 1917 in Genf geboren. Seine Mutter war Schweizerin und sein Vater Grieche. In den ersten neun Lebensjahren lebte er mit seinen Eltern auf der griechischen Insel Kefalonia, bevor die Familie wieder in die Schweiz zurückkehrte. Nach der Schule studierte Haldas Literatur in Genf und verdiente sein Geld als Journalist, Lehrer und Buchhändler. 1942 erschien sein erster Gedichtband, dem noch 15 weitere folgten. Außerdem veröffentlichte er mehr als 50 Prosawerke.
Als der alte Georges Haldas von seinem Verleger gefragt wurde, was er von einer Gesamtausgabe mit seinen rund 1000 Gedichten halte, war Georges Haldas nicht sehr angetan von der Idee, da er nicht das Gefühl hatte, dass sein lyrisches Werk komplett wäre. Trotzdem erschien "Poésie complète" im Jahr 2000 und sein Verleger beruhigte ihn, dass er selbstverständlich weiterschreiben solle. Was der auch tat.
Nach der Veröffentlichung seiner "Poésie complète" entstanden noch rund 300 Gedichte, die er posthum hinterließ. Eine Vielzahl dieser Gedichte schrieb Georges Haldas aufgrund seiner späten Erblindung "im Kopf" und diktierte sie dann seiner Lebensgefährtin, der Schriftstellerin Catherine de Perrot-Challandes. Aus dieser Hinterlassenschaft wählte Christoph Ferber 71 Gedichte für den vorliegenden Band aus, die er auch übersetzte. Und gut übersetzte.
"Vor der großen Abfahrt" ist eine Sammlung von traurig-schönen Gedichten aus dem Grenzland zwischen Leben und Tod, in dem sich Haldas in seinen letzten Jahren bewegte. Ernste, schnörkellose Verse sind da zu lesen, die ohne Umschweife auf den Punkt kommen: "[...] Und jetzt trinke ich einsam / aus meinem Glas / in diesem Kaffehaus / wo jeder Tag an dem man lebte / ein Festtag war, wo man sich Bis morgen zurief / auch wenn es regnete / Doch dieses Fest ist / - ach - auch vorüber."
Aber es sind auch Verse zu lesen, die nicht dem Grundriss Schmerz folgen. Der Abgesang des blinden Dichters Georges Haldas ist auch ein glücklicher Gesang, zumal wenn er sich seiner Kindheit auf Kefalonia erinnert: "Auf jeden Morgen folgte ein anderer / und wenn der Hahn krähte / erwachte man jedes Mal / jünger denn je." Und in "Posthumer Monolog" heißt es am Ende: "Und jetzt weiß ich / um all die Schönheit überall / auf der Welt zu sehen / müssen wir sie verlassen."
Als einen "Pilger der Melancholie" hat sich Georges Haldas einmal selber beschrieben und wer mit dem Zustand der Melancholie nichts negatives verbindet, kann in "Vor der großen Abfahrt" tiefe Verse entdecken, die ihresgleichen suchen in der aktuellen Lyrik. Große authentische Kunst.
Eine Rezension von Matthias Ehlers
Literaturangaben:
Georges Haldas: Vor der großen Abfahrt / Avant le grand départ
Gedichte - Französisch und Deutsch
Übersetzt von Christoph Ferber
Mit einem Nachwort von Barbara Traber
Limmat Verlag, 2024
168 Seiten, 38 Euro