Aktuelle Lyrik - Ein Gedicht
Aus: "Der Tote ist nicht von uns" von Ana Tcheishvili
Stand: 09.11.2024, 21:05 Uhr
Mit traumwandlerischer Entschlossenheit spaziert Ana Tcheishvili inmitten von Kindheits- und Jugenderinnerungen, durch Mietshäuser und vorbei an menschlichen Beziehungen. Dank eigenem Ton wird hier das Vertraute fremd und das Fremde vertraut.
Ana Tcheishvili, geboren 1993 in Tiflis, studierte Psychologie und Liberal Arts in Tiflis, Berlin und Leipzig. Neben der Arbeit als Psychologin studiert sie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Tcheishvili veröffentlich sowohl auf Deutsch, als auch auf Georgisch. Nun ist ihr Lyrikband "Der Tote ist nicht von uns" erschienen. Darin beleuchtet Ana Tcheishvili prägnant Erlebtes und Widerfahrenes. Mit einem eigenen Ton begegnet sie hier den Aufs und Abs des Alltags. Vor allem dessen dunkle Seiten beschäftigen die junge Dichterin.
Verfall und Tod werden in diesem Gedichtzyklus häufig mitgedacht oder mitgefühlt. Körperlichkeit in all seiner Verletzlichkeit und Bedürftigkeit. Fragen des Menschseins durchziehen die hier versammelten Verse. Jähe Brüche finden sich immer wieder. Und damit die Offenlegung von Absurditäten, Wunden und Widersprüchen, welche das lyrische Ich erlebt und aus- oder gar zusammenhalten muss.
Dabei geht Tcheishvili bei aller dichterischen Sensibilität nicht gerade zimperlich vor. Eine gewisse Härte und Entschlossenheit zeichnen ihren Stil hier aus. Bisweilen fast teilnahmslos und entrückt wird eine erträumte Gegenwart oder Rückschau scharf gestellt. So bekommen Tcheishvilis Zeilen bei hoher Konkretheit und Unmittelbarkeit eine mythische, schwer durchdringbare Urtiefe. Dazu tragen auch die teils komprimierten Texturen bei. In so manchem Wort wird sorgfältig Erinnerung aufbewahrt, Erfahrung zusammengefaltet.
Thematisch finden sich in "Der Tote ist nicht von uns" - von einem urbanen Nachbarschaftsminiepos abgesehen – hauptsächlich Kindheits- und Jugenderinnerungen: Die Familie, die osteuropäische Herkunft, kleine und größere Dramen des Ausgeliefertseins zwischen Unschuld und schlechtem Gewissen, Momente des Staunens über das rätselhafte Regelwerk der Erwachsenenwelt, der eigene emotionale und physische Übergang zu eben jener. Aber vor allem ein sehr direktes, voll umfängliches im Hier-und-Jetzt-Sein, das sich auf die Leserschaft überträgt. In einem bewusst klein gehalten Kosmos, der doch die Welt bedeutet, stöbert die Dichterin intuitiv und birgt Anmutiges.
Eine Rezension von Moritz Holler
Literaturangaben:
Ana Tcheishvili: Der Tote ist nicht von uns
Edition Zwanzig im Verlagshaus Berlin, 48 Seiten, 9.90 Euro