Olivia Louvel

Leftfield wachsen Beeren: Neues aus abenteuerlichen Gefilden

Vergangenheit und Gegenwart: Olivia Louvel thematisiert das untergegangene Doggerland. Lenhart Tapes frickelt an multiethnischen Samplemixes. Rizomagic verknotet Currulao und Tamborito mit IDM. Shackleton lässt Geister um deutsches Liedgut schweben.

Doggerland ist ‚das Atlantis des Nordens‘ - ein Bereich im südlichen Teil des Nordseebeckens, der während der letzten Kaltzeit trocken lag und in der Mittelsteinzeit von Jägern und Sammlern besiedelt war. Der europäische Kontinent war also zu dieser Zeit eins mit den heutigen UK Inseln. Olivia Louvel ist in Frankreich geboren, lebt aber als Künstlerin, Komponistin und Forscherin in Großbritannien. Aktuell arbeitet sie an der Universität von Brighton, wo sie im Rahmen ihres PhD die Wechselwirkungen von Sound und Skulptur betrachtet und auslotet. Wesentlich für ihre Kompositionen, Performances und Installationen, die oft multimedial angelegt sind, sind der Einsatz von Stimme, Computermusik und die Generierung digitaler Erzählungen. „doggerLANDscape“ ist eine multimediale Suite, in der Louvel vor dem Hintergrund der aktuellen Beziehungen des UK mit dem europäischen Kontinent die politischen Implikationen, aber auch die Geographie und die Geschichte des Doggerlands frei legt. Das 6 x 10“ - Album ergänzen diverse Drucke und eine kontemplative Videoarbeit, die Louvel bei der Suche nach den Überresten der überschwemmten Wälder von Doggerland an der Küste von Lincolnshire zeigt.

Béla Bartók war Komponist und Pianist, aber auch Musikethnologe. Anfang des 20. Jahrhunderts hat er die Neuprägung der klassischen Musikwelt in ihrer Abkehr von der Romantik durch Kompositionen mitgeprägt, die inspiriert sind von Volksmusik bzw. traditionellen Volksliedern Osteuropas, der Türkei und nordafrikanischen Ländern. Etwas unerhörtes Neues wurde aus den Entdeckungen der Vergangenheit geschaffen. Gut 100 Jahre später, genauer seit 2010, revolutioniert Vladimir Lenhart auf ganz ähnliche Weise den serbischen Underground. Auf Flohmärkten, wo er in die Jahre gekommene Kassetten „nach Kilo“ kauft um sie mit seinem „dritten Ohr“ auf der Suche nach obskuren Tanzbeats und besonderen Eigenheiten aus Folk und Turbo-Folk zu durchforsten, gräbt er so tief wie breit in der Vergangenheit. Loops von diesen Bändern spielt er dann auf der Bühne über diverse Walkmans ab was ihm auch den Beinamen <<Walkman-Alchemist>> eingebracht hat. In seinen Anfangszeiten stand er meist allein vor seinem Tape-Fuhrpark. Aber seit einigen Jahren begleiten ihn Sängerinnen, die Lenharts Sample-Loops und Noise-Elemente zur backing-Band für traditionelle Folk-Melodien machen. Eine generelle Tendenz. Auch wenn sie noch weit davon entfernt sind, haben die tracks von Lenhart Tapes sich immer mehr traditionellen Songstrukturen angenähert. Spannend ist auch die Frage nach dem soziologischen bzw. politischen Gehalt dieses Projekts. Vladimir Lenhart gehört zu einer slowakischen Minderheit, die in der autonomen Provinz Vojvodina in Serbien lebt, wo Lenhart auch aufgewachsen ist. Vielleicht nicht ungewöhnlich, dass daher Lieder und Musik ethnischer Minderheiten der Balkanländer bei ihm im Fokus stehen, wenngleich er auch Samples aus Material aus Afrika und dem Nahen Osten rausholt.

Bis zu seinem Studium an der päpstlichen Universität Xaveriana in Bogotá, der Hauptstadt von Kolumbien, hatte Diego Manrique keinen Bezug zur Musik seines Heimatlands Kolumbien - weder zu indigenen, noch zu afro-columbianischen Musikstilen. Damit in Kontakt gekommen ist er erst durch seine Dozenten, die mit Bands wie z.B. den Meridian Brothers zu einer Welle gehören, die seit den 1990er Jahren u.a. die Cumbia, aber auch Instrumentarium der indigenen Bevölkerung wie z.B die Gaita Flöte in den Pop- und Clubkontext ein- bzw. zurückgeführt haben. Völlig anders: Edgar Marún. Seine Familie lebt an der Atlantikküste wo Cumbia, der Cumbia-Ableger Porro oder auch Vallenato quasi beheimatet sind. Dazu kommen afro-kolumbianische Stile wie die Champeta, die in den Schwarzenvierteln der Küstenstädte präsent sind. Manrique und Marún sind sich an der Uni begegnet und haben sich in ihrem Gemeinsamen Projekt der Vergangenheit angenommen, um damit Zukunft als magisches Unterfangen zu arrangieren. In ihrem Sound geht es um Dekonstruktion von Identität, durch die aber gleichzeitig auch eine Behauptung derselben, vielleicht auch eine Projektion derselben stattfindet: Traditionelle Musik wird deutlich erkennbar nis in kleinste Teile zerstückelt und rekonfiguriert. Auf ihrem zweiten Album „Marimbitiaos“ die Marimba-Musik der Pazifikküste: Currulao und Tamborito. Teilweise aus der Konserve, im Gegensatz zum Debutalbum aber teilweise auch eingespielt von musikalischen Mitstreitern: Der kolumbianischen Band Bejuco und der Sängerin María Mónica Gutiérrez aka. Montañera. Die einzelnen Elemente verbinden sie in einem global(er)en, offen(er)en musikalischen Gewebe mit digitalen und Synthiesounds. Das Arrangement ist dezentral und nicht hegemonial organisiert. Ideengebend dafür ist die Organisationsstruktur eines Rhizoms, dessen bekanntester Vertreter wohl die Ingwerknolle ist, und das auch als mit-Namensgeber für das Projekt der beiden Pate steht: Rizomagic.

Sam Shackleton war lange Zeit ein Dubstep-Dancefloor-Wobbler, bevor er sich musikalisch vor gut zehn Jahren in Bereiche begeben hat, in denen ihn nicht-westliche Rhythmusstrukturen und alternative Stimmungssysteme in ihren Bann gezogen haben. Auf seinem neuen Album „The Scandal Of Time“ ist genau das auch wieder zu hören: Elemente, die in reiner Stimmung aufeinander bezogen sind vermengt er mit geisterhaft anmutenden und surreal gebogenen Synthiesounds. Zeit scheint für die tracks von Shackleton schon seit jeher der Anker zu sein, um den sich der Radius seiner Stücke etabliert. Er gehörte zur Riege der Musikerinnen, die in den 2000er Jahren mit <<Hauntology>> in Verbindung gebracht worden sind - einem ursprünglich vom Philosophen Jacques Derrida geprägter Begriff, der von den Kulturtheoretikern Mark Fisher und Simon Reynolds auf musikalische Phänomene übertragen wurde, die vergangene Ästhetiken rekontextualisieren und damit das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit ausloten. In Fishers/Reynolds Sinne geschieht das meist in Form von Samples. In den Produktionen von Shackleton manifestiert sich aber - zumindest heutzutage - vielmehr das schauerlich Geisterhafte, dass diesem Begriff auch innewohnt. Vielleicht die Schauerlichkeit der Zeit, die sie immer dann annimmt, wenn sie vergangen ist, aber auf geisterhafte Weise wiederkehrt. Diese Qualität zieht sich durch viele der Stücke auf „The Scandal Of Time“ - manchmal noch auf die Spitze getrieben durch die Kombination mit Volksliedgut: „Es geht ein dunkle Wolk herein“, „Es fiel ein Reif“, „Abend wird es wieder“. Dass Shackleton deutsches Liedgut ausgewählt hat ist wohl der Tatsache zuzuordnen, dass er seit einigen Jahren in Deutschland lebt. Eingesungen wurden die Lieder von der Sängerin Anna Gerth - in teils traumwandlerischer Intonation. Teilweise gibt Shackleton auf die Stimme von Gerth noch einen Effekt, der sie einige Register tiefer und ein wenig blurry doppelt und den schaurigen Effekt perfekt macht. Das Kreatürliche scheint hier nicht in der Zeit zu vergehen, sondern im Sog des Digitalen zerstückelt zu werden.

Leftfield wachsen Beeren: Neues aus abenteuerlichen Gefilden

WDR 3 open: Multitrack 09.11.2023 56:42 Min. Verfügbar bis 08.11.2024 WDR 3 Von Ilka Geyer


We Are One Land | 3:40              
Olivia Louvel

I Extend My Arms Across The North Sea | 3:41
Olivia Louvel feat. Antoine Kendall-Louvel

Jobita | 4:35
Rizomagic feat. Bejuco

Más Allá | 3:34
Rizomagic feat. Montañera

Džamahirija | 5:48
Lenhart Tapes feat. Zoja Borovčanin

Starala Sa | 9:03
Lenhart Tapes feat. Svetlana Spajić

Faraway Flowers | 6:58
Shackleton

Abend wird es wieder | 10:39
Shackleton

Moderation: Ilka Geyer
Redaktion: Markus Heuger