Live hören
Nach der Flutkatastrophe: Renovierung der Orgel in Gemünd

18.04.2020 - Systemrelevant

Stand: 18.04.2020, 12:25 Uhr

Krankenschwestern und Kassierer sind systemrelevant, das wissen wir inzwischen. Feuerwehrleute auch, Apothekerinnen sowieso. Die Journalisten sind auch dabei. Jetzt wollen auch die Bestatter dazu gehören. Und im US-Staat Florida zählt Wrestling dazu, ohne Witz. Wer ist eigentlich nicht systemrelevant? Hedgefondsmanager und Unternehmensberater. Das ist ja klar. Aber ganz viele andere Berufe fühlen sich systemrelevant. Zurecht, denn die meisten machen eine nützliche Arbeit, eben nicht das, was David Graeber in seinem Buch als Bullshit-Jobs beschrieben hat. Seit neuestem spricht man auch von den systemrelevanten Schauspielern, Sängern und Musikern, den Künstlern allgemein

Ursprünglich kommt der Begriff aus der Finanzwelt und meinte "too big to fail". Wenn die Deutsche Bank zusammenbricht, reißt sie alles mit, womöglich auch die kleinen Ersparnisse der soloselbständigen Künstler, die jetzt wegen Corona darben. Aber sind sie systemrelevant und sollten deswegen arbeiten dürfen, Konzerte geben, in Opern singen? Der Intendant der Bayerischen Staatsoper in München hat gerade das Ende der Spielzeit 19/20 verkündet. Er ist der Auffassung, dass die Kunst derzeit auf dem Abstellgleis geparkt ist, obwohl sie doch ein "systemrelevantes Gut" sei.

Richard von Weizsäcker

Richard von Weizsäcker

Er darf sich dabei auf die höchste staatliche Instanz berufen, die es bei uns gibt, den Bundespräsidenten. Schon 1991 sagte Richard von Weizsäcker: "Denn Kultur ist kein Luxus, den wir uns leisten oder auch streichen können, sondern der geistige Boden, der unsere eigentliche innere Überlebensfähigkeit sichert." Dieses Zitat hat der ehemalige Innenminister und heutige Kulturlobbyist Gerhart Baum wiedergefunden, der von der Bundesregierung eine nationale Anstrengung für die freiberuflichen Künstler fordert.

Er hat Monika Grütters, die Bundes-Staatsministerin für Kultur, direkt angesprochen. Die hat neulich in einem Spiegel-Interview gesagt, die freiberuflichen Künstler "wollen aus einer starken intrinsischen Motivation heraus unbedingt ihr Ding machen", freilich, wie sie anfügt, "zu einem riesigen gesamtgesellschaftlichen Nutzen". Trotzdem: "Sein Ding machen" ist ungefähr das Gegenteil von systemrelevant.

Bzw. umgekehrt, wer systemrelevant ist, kann sein Ding machen. Wer so von der Krankenschwester oder dem Fahrer, der die Coronateströhrchen ins Labor bringt, reden würde, wäre ein böser Zyniker. Aber zynisch sind die Berufslisten der Systemrelevanten auch, weil sie ausgrenzen. Ist denn ein Künstler wirklich weniger wichtig? Wenn es um die Bedienung einer Beatmungsmaschine geht wohl schon.

Aber: "Die Wahrheit ist hässlich: wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.", sagte Friedrich Nietzsche. Jawohl, zugrunde gehen, sagte Nietzsche.

Friedrich Nietzsche

Friedrich Nietzsche

Also, lasst die Musiker spielen und die Schauspieler mimen. Wie das in diesen Zeiten gehen soll, sollen Professor Drosten und Professor Wieler und die anderen Experten sagen, aber sie sollen es bitteschön sagen. Das muss doch in unserem großartigen digitalen Zeitalter irgendwie möglich sein. Mich darf man aber nicht fragen wie. Geisterkonzerte sind jedenfalls keine Lösung.