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Adriana Bastidas-Gamboa als Carmen

06.01.2020 – Bizet, "Carmen" in Köln

Stand: 06.01.2020, 12:25 Uhr

Archaische Symbolik und eine politische Konsequenz. Das ist ein ungewöhnlicher, geradezu verstörender Zugang zur Oper "Carmen", den die Regisseurin Lydia Steier in Köln findet. Es geht um zur Schau gestelltes Fleisch. Im ersten Akt um hergerichtetes Fleisch in einer spanischen Markthalle, im zweiten um lebendiges Fleisch, wenn Frauen sich während des Rituals einer spanischen Madonnenverehrung entblößen, im dritten Akt um das käufliches Fleisch der Prostitution und sogar um totes Menschenfleisch geht es, wenn Frauen wie geschlachtet auf einem Metzgerkarren transportiert werden.

Von all dem hält sich die Figur der Carmen fern. Sie verhüllt ihre Reize in einem militärischen Overall oder wird selbst zur unnahbaren Madonna gekleidet. Diese Unnahbarkeit strahlt Adriana Bastidas-Gamboa mit jeder Geste und jedem Wimpernschlag aus und singt Ihre Habanera und ihre Seguidilla dunkel timbriert und fast abweisend. Immer wieder sieht man sie und ein alter ego von ihr aber auch in einem weißen Unterrock. Das sind in den Zwischenspielen der Oper Momente der Entblößung und Schutzlosigkeit. Und man sieht den Rücken blutgetränkt wie der eines getöteten Stiers, in dessen Nacken die Banderillas stecken, denn in der Oper "Carmen" geht es natürlich auch um Stierkampf. Hier aber ist es Symbol einer erniedrigten, vergewaltigten Frau. Diese Uminterpretation eines heute als grausam gebrandmarkten spanischen Rituals (in das sich allerdings auch große Künstler wie Picasso versenken konnten) in ein Geschlechterspannungsverhältnis der einseitigen Erniedrigung ist kulturhistorisch gewagt, aber im Zusammenhang mit der Oper stimmig und eben auch politisch.

Dazu passt, dass Oliver Zwarg den Torero Escamillo als einen Macho spielt, wie er im Buch steht, und in seinen dröhnenden und zugleich fokussierten Tönen unverhüllte Virilität ausströmt. Demgegenüber ist der Don Jose, wie in Martin Muehle interpretiert, eine zerrissene, unfertige Person. Zu echtem Pathos ist er nur fähig, wenn er von Micaëla an seine Mutter erinnert wird. Sein Hingezogensein zu Carmen ist ihm selbst unheimlich. Und töten kann er sie nicht. Das tut sie sich selbst an, scheinbar um ihre Souveränität zu wahren. Auch diese Umdeutung von Lydia Steier ist nicht gegen das Stück, denn Carmen singt von sich: "Frei ist sie geboren, und frei wird sie sterben".

Aber wie sie sich selbst schlachtet nach den zur Schau gestellten Verpanzerungen und dabei fast zum ersten Mal aktiv und lebendig wirkt, ist ein zutiefst pessimistischer Schluss.

Dabei hat die Inszenierung durch das collagenartige Bühnenbild von Momme Hinrichs etwas Derbes und Grelles und auch komische Momente durch die slapstickartigen Bewegungen der Soldaten oder die Buster-Keaton-artige Traurigkeit des Don Jose und die bebrillte Micaëla, die einem amerikanischen Musical der Fünfzigerjahre entstiegen zu sein scheint, aber glockenklar von Claudia Rohrbach gesungen wird.

Derb und grell ist auch die Musik. Bizets Folklorismus wirkt unter der Leitung von Gabriel Feltz (in der besuchten Vorstellung) wie umgewandelt in eine volksmusikalische Ursprünglichkeit und Direktheit, obwohl Bizet doch alles selbst erfunden hatte. Es ist, als ob in einem eigenartigen Gleichklang die drastischen Bilder direkt in die Musik umschlagen und umgekehrt.

So schroff und verstörend neuartig gab es womöglich noch keine "Carmen" auf der Opernbühne.

Premiere: 10.11.2019, besuchte Vorstellung: 05.01.2020

Besetzung:
Carmen: Adriana Bastidas-Gamboa
Don José: Martin Muehle
Micaëla: Claudia Rohrbach
Escamillo: Oliver Zwarg
Zuniga: Lucas Singer
Moralès:Anthony Sandle
Frasquita: Ye Eun Choi
Mercédès: Regina Richter
Le Dancaïre: Vincenzo Neri
Le Remendado: Anton Kuzenok

Chor und Extrachor der Oper Köln
Schüler des Mittelstufenchores am Max Ernst Gymnasium Brühl
Gürzenich-Orchester Köln

Musikalische Leitung: Gabriel Feltz
Inszenierung: Lydia Steier
Bühne und Video: Momme Hinrichs (fettFilm)
Kostüme: Gianluca Falaschi
Licht: Andreas Grüter
Chorleitung: Rustam Samedov