Bachs Matthäus-Passion am Wiesbadener Staatstheater

19.01.2020 - Bach, Matthäus-Passion am Wiesbadener Staatstheater

Stand: 19.01.2020, 12:25 Uhr

Die Regisseurin Johanna Wehner hat am Wiesbadener Staatstheater der Versuchung widerstanden, aus der Matthäus-Passion einen Brutalo-Shocker im Stil von Mel Gibson zu machen, auch kein Effekt-Stück à la "Jesus Christ Superstar" und kein Oberammergau-Volksdrama. Dass es hier überhaupt um die Passion geht, sieht man nur an dem riesigen Podest in Kreuzform, das auf der Bühne liegt und Stege für die Aktionen der Protagonisten bildet.

Aber sind es überhaupt Aktionen? Eher sind es emotionale Konstellationen, die hier sichtbar werden. Und darin trifft sich die Inszenierung auf einer bestimmten Ebene mit der vertanzten Version der Matthäus-Passion, wie sie etwa der Choreograph John Neumeier - freilich in einer ganz anderen Ästhetik -, gezeigt hat.

Es geht um Liebe, Verrat und Einsamkeit bzw. darum, wie Menschen bei diesen Empfindungen sich bewegen und sich ausdrücken. So hält Johanna Wehner wunderbar in der Schwebe, was für eine Art von Zuneigung die Sopranistin und die Altistin in ihren Arien, etwa in "Ich will Dir mein Herze schenken" zu Jesus empfinden. Jedenfalls ist es bei beiden Frauen, Anna El-Khashem und Anna Alàs i Jové, eine kräftige, wenn auch nicht heftige Emotion und nie ganz ohne Erotik. Zu Hilfe kommt ihnen ihr opernhafter, nach außen gerichteter, voll tönender Gesang in großen Bögen, was gar nicht mal gegen den Geist von Bachs Musik ging. Konstantin Krimmel spielte einen vollbärtigen, langhaarigen Jesus so, als ob er einem Gemälde von Guido Reni entstiegen sei, allerdings gekleidet in einen gepflegten schwarz-weiß Casual-Look. Diesen verklärten Guru-Blick, das sanft-bestimmte Wandeln auf den Planken des Podestkreuzes, das gütige Halten der Hand des Verräters Judas würde man anderswo als Erlöser-Klischees abtun, aber bei Krimmel kam eine Spur von Widerständigkeit oder Männlichkeit hinein, auch durch den Gesang bei dem trotzig-lauten "Eli, lama, asabthani". Dagegen strahlte der Evangelist jugendliche Aufgeregtheit aus, und Julian Habermann ist tatsächlich ein junger Sänger. Er staunte jeden Moment über das, was er zu berichten hatte. Es schadete dann überhaupt nichts, wenn seine Stimme in der Höhe klein wirkte, weil er seine Worte präzis-eindringlich von sich gab. Ganz anders dagegen der Bassist Wolf Matthias Friedrich, der anfangs noch einen selbstsicheren Petrus vorstellte, aber dann nach dem Verrat grüblerische Zwischentöne fand.

Diese Konstellationen ordnete Johanna Wehner wie im Tanztheater. In welchem Verhältnis die Personen zueinander stehen, sah man an ihren räumlichen Positionen auf den Stegen und in den angedeuteten Bewegungen. Das hatte fast schon etwas von barocken Gestentheater als rhetorisches Mittel, allerdings in einer modernen Körpersprache.

Der Chor, schwarz gekleidet in Kostüme von Barock bis heute, inklusive Sonnenbrillen, stand meist links und rechts neben dem Längsbalken des Podestkreuzes vor Notenpulten und beteiligte sich in den Volkschören hin und wieder auch an der Aktion, etwa bei der Gefangennahme, wenn Jesus in den Menschenmassen einfach unsichtbar wurde.

Es ist positiv zu werten, wenn sich die Musiker an Opernhäusern, Choristen wie Orchestermusiker, mit der Musik von Johann Sebastian Bach beschäftigen, besonders wenn Sie von einem Experten wie Konrad Junghänel angeleitet werden. Da sollte man etwas großzügig sein, wenn nicht alles den Standards der historischen Aufführungspraxis entspricht. Denn es wurde im Wiesbadener Staatstheater im Vergleich zu Verdi, Mozart und Wagner und allem, was man sonst dort hört, auch deutlich, wie stark die Musik von Bach - besonders in den Arien – sich aus einer Art von nach innen gewandter Dehnung speist, die man nur versteht, wenn man sich gewissermaßen in die Töne hinein begibt, genauso wie es die Regisseurin mit den Personen getan hat.

Premiere: 18.01.2020, noch bis zum 10.04.2020

Besetzung:
Evangelist/Tenor: Julian Habermann
Jesus: Konstantin Krimmel
Sopran: Anna El-Khashem
Alt: Anna Alàs i Jové
Bass / Petrus Wolf Matthias Friedrich
Judas / Pilatus Benjamin Russell

Chor & Chorsolisten des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden
Jugendkantorei der Ev. Singakademie Wiesbaden
Hessisches Staatsorchester Wiesbaden

Musikalische Leitung: Konrad Junghänel
Inszenierung: Johanna Wehner
Bühne: Volker Hintermeier
Kostüme: Su Bühler
Chor: Albert Horne, Christoph Stiller
Jugendchor: Niklas Sikner
Licht: Andreas Frank
Dramaturgie: Katja Leclerc