Es ist eine Sonntagsmesse, die niemand so schnell vergessen wird. Es herrscht Totenstille, als Pfarrer Josef L. einen Brief vorliest, den er zuvor an Bischof Felix Genn in Münster geschickt hat: "Ich hatte geglaubt, dass die Tat damals in einem Gespräch beim Bistum vergeben worden war", sagte der 82-jährige Priester mit brüchiger Stimme. Heute wisse er, dass der Betroffene immer noch darunter leide.
In einer hinteren Kirchenbank weint ein Mann, andere Gemeindemitglieder schauen sich fassungslos an. Pfarrer L. war mit seiner Emeritierung nach Rhede gekommen, in eine Gemeinde, die schon von einer ganzen Missbrauchsserie durch einen früheren Priester gebeutelt war. Umso größer die Enttäuschung heute, aber auch die Bewunderung für den Mut des Priesters, offen zu seiner Schuld zu stehen.
Opfer hatte dem Pfarrer vertraut
Daniel (Name geändert), der damals Betroffene, ist in dieser Messe nicht dabei. Bei einem Treffen vorher erklärt er, warum ihm die Übergriffe des Priesters bis heute keine Ruhe lassen. "Ich habe mich geekelt und war total verunsichert. Ich konnte mich aber damals nicht wehren oder ihm sagen, er soll die Finger wegnehmen", sagte er in einem Interview mit dem WDR. Er habe ein sehr vertrauensvolles Verhältnis zu Pfarrer L. gehabt, und der habe gewusst, dass Daniel zu dem Zeitpunkt Probleme im Elternhaus hatte. "Ich wollte diese Rückzugsmöglichkeit nicht verlieren und ihn nicht vergraulen", so erklärt sich Daniel sein Verhalten heute.
Taten beim Bistum gemeldet
Mitte der 90er-Jahre habe sein Vater die Taten beim Bistum gemeldet. In Anwesenheit des Personalverantwortlichen habe der Priester zunächst seine Schuld geleugnet, in einem zweiten Termin aber gestanden und sich entschuldigt. "Ist das jetzt okay?", habe der Personalverantwortliche Daniel damals gefragt. "Ich war total verdattert, mehr konnte ich nicht sagen", blickt er heute zurück.
Privatsache unter Erwachsenen?
Im Jahr 2010, als die große Welle der Missbrauchsaufdeckungen anrollte, meldete er sich allerdings ein weiteres Mal beim Bistum Münster, stieß aber auf wenig Verständnis. "Sie waren ja schon volljährig, das ist eine Privatsache unter Erwachsenen", habe der Personalverantwortliche des Bistums damals gesagt. Aus Daniels Sicht juristisch zwar korrekt, aber eine völlig "unempathische Reaktion".
Amtsnachfolger wusste nichts
Für den aktuell leitenden Pfarrer der Gemeinde, Thorsten Schmölzing, insgesamt eine sehr schwierige Situation Bis vor Kurzem war er nicht über die Übergriffe seines Amtskollegen informiert. Im Gegenteil: Er habe sich vor sieben Jahren beim Bistum erkundigt, ob etwas gegen den Priester vorliege. Das habe das Bistum verneint, so Schmölzing.
Fall von spirituellem Machtmissbrauch
"Heute würden wir den Fall anders als damals bewerten", räumt auch der Missbrauchsbeaufragte des Bistums, Peter Frings, ein. Der mehr als 40 Jahre ältere Priester habe seine Position ausgenutzt, das sei ein typischer Fall von spirituellem Machtmissbrauch.
Es sei dem Priester aber hoch anzurechnen, dass er die Taten so offen eingeräumt habe. Und zum Christentum gehöre es auch, Schuld zu vergeben.
Opfer will sich nicht rächen
"Hätte das Bistum damals anderes reagiert, wäre es nie zu der Situation heute in der Messe gekommen", sagt Missbrauchsopfer Daniel. Ihm sei es auch nicht darum gegangen, sich an dem Pfarrer zu rächen. Denn er habe sich ja zu seiner Schuld bekannt.
"Ich wollte die Deutungshoheit aber nicht der Kirche überlassen", erklärt Daniel. Darum habe er so viele Jahre nicht locker gelassen.
Bischof versetzt Pfarrer in Ruhestand
Am Montag hat Bischof Felix Genn den emeritierten Pfarrers in den Ruhestand versetzt. Der Pfarrer, der seit seiner Emeritierung in der Rheder Pfarrei St. Gudula seelsorglich tätig war, hatte selbst darum gebeten.
In einem Schreiben hatte der 82-Jährige dem Bischof seinen Verzicht auf alle priesterlichen Tätigkeiten erklärt. Nach Absprache mit dem Beraterstab sowie dem Interventionsbeauftragen des Bistums, Peter Frings, erlaubt Bischof Genn dem Ruhestandsgeistlichen weiterhin sämtliche Aufgaben wahrzunehmen, wenn Menschen ihn konkret darum bitten. Verbindliche Auflage ist, dass er mit dem jeweils leitenden Pfarrer der Pfarrei, in dem er seinen Wohnsitz hat, diese Tätigkeiten vorher abspricht.
Über dieses Thema berichten wir auch in der WDR Lokalzeit Münsterland im Fernsehen.