Studie zu Polizeigewalt: Opfer haben in Strafverfahren kaum eine Chance
Stand: 16.05.2023, 19:45 Uhr
Fälle von Polizeigewalt werden in Deutschland nur selten wirklich untersucht. Betroffene trauen sich kaum Anzeige zu erstatten und Staatsanwälte bringen Polizisten selten vor Gericht. Das zeigt eine unabhängige Studie der Universität Frankfurt.
Von Christina Zühlke
Auch Sven Wille hat an der Studie zu Polizeigewalt teilgenommen. An einem Kreisverkehr in der Nähe des Kölner Doms wurde er von Polizisten zu Boden geworfen, geschlagen und getreten. Dabei wollte er eigentlich beim Christopher Street Day 2016 für Freiheit und Gleichberechtigung demonstrieren. "Die Gewalt hinterlässt auf jeden Fall tiefe Spuren", sagt Wille. Er habe kein Vertrauen mehr in die Polizei, auch nicht in den Rechtsstaat.
Sven Wille mit Blutergüssen im Gesicht
Was Sven Wille erlebte, nennt Studienleiter Tobias Singelnstein einen "typischen Fall". Nicht die Polizisten, die Wille verprügelten, landeten vor Gericht, sondern er. Wegen angeblichen Widerstands gegen die Staatsgewalt. Vier Jahre und vier Verfahren dauerte es, bis vor Gericht geklärt war, dass Sven Wille Unrecht geschehen war. Für ihn eine qualvolle Zeit.
Über 3.300 Betroffene befragt
Tobias Singelnstein hat für die Polizeistudie der Universität Frankfurt - gemeinsam mit drei Kolleginnen - fünf Jahre lang geforscht. Über 3.300 Betroffene von mutmaßlicher Polizeigewalt wurden befragt, ebenso wie Mitarbeitende aus Polizei und Justiz.
Eines der Ergebnisse der Studie: Betroffene von Polizeigewalt haben kaum eine Chance im deutschen Justizsystem. "Und für die Betroffenen", ergänzt Singelnstein im WDR-Interview, "stellt sich das häufig sogar als eine Art zweiter Opferwerdung dar, wenn sie feststellen müssen, dass ihnen überall mit Misstrauen begegnet wird und nicht anerkannt wird, was ihnen widerfahren ist".
Kriminologe: "Wenig Problembewusstsein"
Gleichzeitig, so Kriminologe Singelnstein, sei er überrascht, wie wenig Problembewusstsein Polizei und Justiz hätten. Beispielsweise dafür, dass wer in Deutschland Polizeigewalt anzeigen wolle, nur zur Polizei gehen könne.
Im Kapitel "Ausblicke" der fast 500 Seiten langen Studie steht deshalb die Forderung nach einer unabhängigen Kontroll- und Beschwerdestelle für die Polizei. Auch für Personen, die wegen ihres Aussehens immer wieder von der Polizei kontrolliert werden.
Polizeikontrollen als "demütigende Erfahrung"
Diese Menschen, "die als fremd gelesen werden", sagt Tobias Singelnstein, erlebten Polizeikontrollen "als sehr demütigende Erfahrung, weil sie eben in der Öffentlichkeit etikettiert werden, als die, die gefährlich sind". Das erzeuge ein starkes Gefühl des Ausgeschlossen-Werdens.
Sebastian Fiedler, ehemaliger Vorsitzender des Bundes deutscher Kriminalbeamter (BDK), der aktuell für die SPD im Bundestag sitzt, kritisierte die Studie dem WDR gegenüber als nicht repräsentativ. Viele der Kritikpunkte, wie etwa die Forderung nach Quittungen im Anschluss an Polizeikontrollen, würden teilweise schon umgesetzt.
Alexander Poitz von der Gewerkschaft der Polizei sagte dem WDR, die Polizei könnte Probleme selbst aufklären, es brauche keine unabhängige Stelle dafür: "Wenn ein Bürger Bauchschmerzen mit einem Sachverhalt hat, dann möge er die Struktur nutzen, die vorhanden sind.“ Die Polizei-Gewerkschaften und auch die Personalräte könnten Sachverhalte aufklären und stünden als Ansprechpartner zur Verfügung.
Betroffene ernst nehmen und auffangen
Vier Jahre dauerte der Prozess von Sven Wille.
Sven Wille hätte sich damals nicht der Polizei anvertrauen wollen. Er, der als queerer Teilnehmer der Christopher-Street-Day-Demo von Polizisten geschlagen wurde, bekam nach den für ihn schwierigen Erfahrungen vor Gericht 15.000 Euro Schmerzensgeld vom Land Nordrhein-Westfalen. Trotzdem sagt er, leide er bis heute unter den Folgen. Eine unabhängige Polizeibeschwerdestelle hätte ihm damals geholfen, glaubt er.
Über dieses Thema berichten wir am 16.5.23 auch im WDR Hörfunk und Fernsehen.