Wahlkampfplakat in Ankara, Türkei – 11. Mai 2023

Präsidentschaftswahl: Mehrheit der Türken in Deutschland für Erdoğan

Stand: 15.05.2023, 19:05 Uhr

In der Türkei kommt es zur Stichwahl zwischen Amtsinhaber Erdoğan und Herausforderer Kılıçdaroğlu. Bei den in Deutschland lebenden Türken war der Wahlausgang dagegen eindeutig.

Bei den Türkinnen und Türken, die in Deutschland leben, zeichnet sich bei der türkischen Präsidentschaftswahl erneut eine deutliche Mehrheit für Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan ab. Laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu entfielen nach Auszählung von 98 Prozent der Stimmen aus Deutschland knapp 65 Prozent auf Erdoğan.

Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu kam dagegen nur auf knapp 33 Prozent. Schon bei der vergangenen Wahl im Jahr 2018 hatte Erdoğan bei den Deutsch-Türken überdurchschnittlich gut abgeschnitten: Damals gewann er die Wahl mit insgesamt 52,6 Prozent der Stimmen, während in Deutschland 64,8 Prozent für ihn votiert hatten.

Nach Daten der türkischen Zeitung Yeni Şafak, die der Regierungspartei AKP nahesteht, entfielen im Generalkonsulat Essen besonders viele Stimmanteile auf Erdoğan: Der amtierende Präsident erreichte dort 77,6 Prozent der Stimmen. In Berlin hingegen fiel das Ergebnis fast ausgeglichen aus. Erdoğan kommt auf 49,2 Prozent, Kılıçdaroğlu auf 48,8 Prozent.

Erdoğan verfehlt absolute Mehrheit knapp

Doch das gute Ergebnis für Erdoğan in Deutschland ist nicht repräsentativ für die Gesamtwahl, zu der rund 64 Millionen Türkinnen und Türken aufgerufen waren, davon rund 3,4 Millionen im Ausland. Wie die Wahlbehörde am Montag mitteilte, kommt Amtsinhaber Erdoğan laut vorläufigem amtlichen Endergebnis auf 49,5 Prozent der Stimmen.

Dahinter folgt mit 44,9 Prozent Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu, der an der Spitze eines Sechs-Parteien-Bündnisses steht. 5,2 Prozent entfielen auf den Ultranationalisten Sinan Oğan. Als Drittplatzierter ist er bei der nun erforderlichen Stichwahl nicht mehr dabei. Für einen Sieg in der ersten Runde am Sonntag wäre eine absolute Mehrheit notwendig gewesen.

Wahl in der Türkei: "Verzögerungstaktik"

WDR 5 Morgenecho - Interview 15.05.2023 04:58 Min. Verfügbar bis 14.05.2024 WDR 5


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Wird Ultranationalist Oğan zur entscheidenden Figur?

Der Termin für die erste Stichwahl um das Präsidentenamt in der Türkei ist der 28. Mai. Wählerinnen und Wähler mit türkischem Pass in Deutschland und anderen Ländern würden bereits zwischen dem 20. und 24. Mai ihre Stimme abgeben können. Entscheidend bei der Stichwahl könnte werden, wie die Anhänger des drittplatzierten Oğan abstimmen. Seine Wählerschaft gilt als gespalten.

Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Caner Aver

Türkei-Experte Aver: Dem Herausforder "fehlt das Charisma"

Caner Aver vom Essener Zentrum für Türkeistudien geht allerdings davon aus, dass ein Großteil der Oğan-Wähler Erdoğan unterstützen wird. "Seine Wähler sind überwiegend Nationalisten und Atatürk-Anhänger", sagte er dem WDR. "Dass die eine sozialdemokratische Partei wählen, die von der HDP unterstützt wird, ist schwer vorstellbar." Die HDP gelte gerade bei vielen konservativen Türken als "verlängerter Arm" der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK.

Als weiteren Grund für das schlechte Abschneiden Kılıçdaroğlus, der in vielen Umfragen vorne gelegen hatte, sieht Aver fehlendes Charisma sowie seinen alevitischen Hintergrund: "Dadurch ist er nicht wählbar für gläubige Sunniten." Zudem habe Kılıçdaroğlus Sechs-Parteien-Bündnis keine Stabilität und kein Vertrauen ausgestrahlt.

Wahlbeobachter bemängeln fehlende demokratische Prinzipien

Präsidenten- und Parlamentswahl in der Türkei

Wie unabhängig ist die türkische Wahlbehörde?

Am Wahlabend und am Morgen danach gab es mehrere Berichte über Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe. Frank Schwabe, Leiter der Wahlbeobachtungsmission des Europarats, sagte, die Türkei erfülle die Prinzipien einer demokratischen Wahl nicht. Bei der Stimmauszählung habe es an Transparenz gefehlt, hieß es von der Delegation. Die Wahlbehörde solle klarstellen, wie genau sie Wahlergebnisse veröffentliche. Der Behörde wird unterstellt, unter dem Einfluss der Regierung zu stehen.

Schon vor der Wahl habe es keine gleichen Voraussetzungen gegeben. Erdoğan und die regierende AKP hätten "ungerechtfertigte Vorteile" gehabt, etwa mit Blick auf die mediale Berichterstattung. Die türkische Regierung kontrolliert weite Teile der Medienlandschaft. Die Opposition habe teilweise unter massivem Druck gestanden.

Wahlbeteiligung um 90 Prozent

Die Wahlbeteilung lag den Angaben zufolge bei 89 Prozent - ein sehr hoher Wert, auch im Vergleich mit Wahlen im Westen. Die Gründe? Laut Aver hätten viele Türkinnen und Türken die Wahl als "Schicksalswahl" empfunden: "Das Verlustrisiko auf der regierenden Seite war hoch, genauso wie die Opposition reelle Gewinnchancen hatte. Das hat viele Menschen mobilisiert in einem tief gespaltenen Land, das extrem politisiert ist."

Özdemir und Roth blicken "ernüchtert" auf Wahlausgang

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, Michael Roth (SPD), bezeichnete den Ausgang der Wahl im ZDF als ernüchternd "für all diejenigen, die sich eine demokratische und rechtsstaatliche Türkei wünschen".

Auch Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) blickt nicht gerade hoffnungsvoll auf das vorläufige Wahlergebnis. Selbst wenn Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu in der Stichwahl gegen Erdoğan gewinnen sollte, werde "er ein zutiefst gespaltenes Land vorfinden", sagte er im Bayerischen Rundfunk. Die gleichzeitig stattfindende Parlamentswahl habe die Nationalversammlung so konservativ gemacht wie noch nie. 

Lambsdorff: Wahlkampf war "alles andere als fair"

Der FDP-Fraktionsvorsitzende Alexander Graf Lambsdorff nannte das Wahlergebnis ebenfalls "ernüchternd". Seit Jahren befinde sich die Türkei auf einem autoritären Kurs. Der Wahlkampf sei "alles andere als fair" gewesen. "Schon lange dominieren Präsident Erdoğan und seine AKP Medien und Staatsinstitutionen, auch die vorgeblich unabhängigen", sagte der FDP-Politiker.

Die CDU-Bundestagsabgeordnete Serap Güler sagte im SWR, das Wahlergebnis sei "keine gute Nachricht". Angesichts der unsicheren Lage nach dem ersten Wahlgang sei es gut, dass beide Lager eine Stichwahl akzeptierten. Allerdings werde es für die Opposition um Kılıçdaroğlu nun sehr schwer.

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