Eine Studie, beauftragt von der Evangelischen Kirche, beschäftigt sich jetzt mit den Vorfällen. Michael Nollau und Gerhard Stärk waren zwölf und 13 Jahre alt, als sie ins Martinstift kamen. Der damalige Leiter schüchterte die Schüler ein. Sie berichten von Schlägen, nächtlichen Besuchen in den Schlafsälen, sexuellen Übergriffen.
"Gewaltförmige Konstellation der 1950er-Jahre"
In einer Chronologie haben die beiden Schüler ihre Erlebnisse und Erkenntnisse aus den Archiv-Akten der Diakonie zusammengefasst und an die Evangelische Kirche im Rheinland übergeben.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Bergischen Universität Wuppertal und der Fachhochschule Potsdam haben die Vorgänge im Martinstift unter Beteiligung der beiden Schüler nun untersucht. Sie sprechen von einer gewaltförmigen Atmosphäre der 1950er-Jahre im evangelischen Schülerheim.
Schüler geschlagen, unter Druck gesetzt und missbraucht
Etwa 70 Jungen im Alter von zehn bis 20 Jahren wohnten in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre im Martinstift. Sie besuchten das nahegelegene Gymnasium und sollten im Schülerheim ein christlich geprägtes Gemeinschaftsleben führen.
Die Erzieher waren keine ausgebildeten Pädagogen, der damalige Leiter Johannes Keubler war Pharmazeut und Gymnasiallehrer. Er schlug die Schüler, setzte sie psychisch unter Druck, missbrauchte sie sexuell.
Opfer wurden allein gelassen
Im Mai 1956 verurteilte ihn das Landgericht Kleve wegen "Misshandlungen und sittlicher Verfehlungen" zu acht Jahren Zuchthaus.
Obwohl der Missbrauch aufgedeckt und der Täter verurteilt wurde, hat sich nach dem Prozess niemand mit den Opfern auseinandergesetzt und ihnen Unterstützung angeboten.
Späte Untersuchung der Vorfälle
Die Untersuchung der Verbrechen in dem Jungeninternat wurde erst aufgenommen, nachdem einer der Betroffenen 2019 Antrag auf Entschädigung gestellt hatte. Er sieht sich laut Studie für sein Leben von der Gewalt gezeichnet, die er im evangelischen Martinstift erlitten hat. So habe er kaum Vertrauen zu anderen Menschen fassen können.
Die Studie der Uni Wuppertal und der Fachhochschule Potsdam fragt auch nach der Verantwortung der damaligen Institutionen und dem Umgang der Evangelischen Kirche heute mit dem Thema.
Evangelische Kirche im Rheinland entschuldigt sich
Die Evangelische Kirche im Rheinland ist sich ihrer Verantwortung bewusst und bekennt sich heute zu ihrer Schuld: "Es beschämt uns – auch angesichts unserer jahrzehntelangen Untätigkeit. Dafür bitte ich Sie im Namen der Institution, der Landeskirche, des Kirchenkreises, der Kirchengemeinde und des diakonischen Werkes um Verzeihung", sagt Christoph Pistorius, Vizepräses der Evangelischen Kirche Rheinland.
Über dieses Thema haben wir am 30.03.2023 auch im WDR-Fernsehen berichtet: Lokalzeit aus Duisburg, 19:30 Uhr.