"A1, Dortmund Richtung Münster. Zehn Kilometer Stau ab der Anschlussstelle Kamener Kreuz." Meldungen wie diese kennen Westdeutschlands Autofahrer aus den Verkehrsnachrichten und verhelfen der Stadt Kamen schon seit Jahrzehnten zu ungewollter Berühmtheit.
In NRW gibt es mit Abstand die meisten Staus
Die Bestätigung liefert die ADAC-Staustatistik. Der Autobahnabschnitt mit den meisten Stau-Ereignissen war auf der A43 zwischen Wuppertal und Recklinghausen. Die in Summe längsten Staus gab es auf der A3 zwischen Köln und Oberhausen. Mit knapp 34 Prozent aller Staus blieb Nordrhein-Westfalen also auch im vergangenen Jahr unangefochtener Spitzenreiter unter den Bundesländern, gefolgt von Bayern mit 17 Prozent.
Dabei beschäftigt sich die Verkehrsforschung spätestens seit den 50er Jahren mit den Ursachen für Staus. Wissenschaftlich ist das Problem hinlänglich untersucht und im Grunde längst gelöst worden. Trotzdem sehen wir Jahr für Jahr dasselbe Bild auf deutschen Autobahnen. Abgesehen von den Corona-bedingten Einbrüchen hat das Stauaufkommen in den vergangenen Jahren sogar immer weiter zugenommen. Woran liegt das?
Ein Lkw wirkt wie 60.000 Autos
Einer der Hauptgründe sei die enorme Zunahme des Lkw-Verkehrs, sagt Physiker und Verkehrsforscher Michael Schreckenberg von der Universität Duisburg-Essen. Allein in den Jahren 2009 bis 2019 ist die Fahrleistung von Lkw auf Autobahnen um rund 60 Prozent angestiegen, was wiederum größtenteils auf das veränderte Konsumverhalten der Gesellschaft zurückzuführen ist: Online-Bestellung statt Ladenbummel. Ein einziger Lkw belaste die Straße aber so stark wie durchschnittlich 60.000 Autos, sagt Schreckenberg.
Tatsächlich ist die Anzahl der Baustellen in den vergangenen Jahren stark angewachsen. Deutschlandweit sind es derzeit in etwa 1000 Sanierungen, die rund zehn Prozent des gesamten Autobahnnetzes ausmachen. Fast doppelt so viel wie noch vor zwei Jahren. Auch hier trägt NRW die Hauptlast.
Ein Sprecher der Autobahn GmbH des Bundes, die für Verwaltung und Instandsetzung zuständig ist, erklärt: "Die Zunahme des Schwerlastverkehrs trifft auf eine Infrastruktur, die überwiegend in den 60er und 70er Jahren erbaut wurde und für eine so hohe Verkehrsbelastung nicht ausgelegt war."
Damals seien die Verkehrsplaner von ganz anderen Prognosen ausgegangen, die von der heutigen Realität ein- und überholt wurden, so der Sprecher weiter. Anders ausgedrückt: Jahrzehntelang wurde versäumt, was nun nachgeholt werden muss.
Der berühmte Stau aus dem Nichts
Dazu kommt insbesondere in der Hauptreisezeit die Überlastung der Straße: der berühmte Stau aus dem Nichts. Auslöser für diese "Phantomstaus" sind oft Flaschenhälse, beispielsweise Anschlussstellen wie das Kamener Kreuz. "Es kommen Fahrzeuge hinzu, die Dichte steigt, die Autos werden langsamer und wenn dann einer bremst oder die Spur wechselt und damit andere zum Bremsen verleitet, dann entsteht eine Stauwelle entgegen der Fahrtrichtung", sagt Verkehrsforscher Schreckenberg.
Der Effekt sei vergleichbar mit einer Pumpe. "Alle fünf bis zehn Minuten entsteht so eine Welle, bis eben die Hauptverkehrszeit vorbei ist." Denn die Kapazitäten der Straßen sind endlich und das Angebot ist starr, während die Nachfrage stark schwankt.
Feldversuch veranschaulicht Überlastungsstaus
Veranschaulicht wurden Überlastungsstaus von Forschern der Universität Nagoya in Japan in einem Feldversuch: 22 Teilnehmer sollten in ihren Fahrzeugen auf einem Rundkurs von 230 Metern Länge bei mäßiger Geschwindigkeit hintereinander herfahren. Kein Problem, sollte man meinen. Doch schon nach wenigen Minuten kam die Kolonne ins Stocken.
Eine ausreichend hohe Verkehrsdichte, ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit: Wenn der erste Fahrer nur kurz langsamer wird, muss der zweite schon deutlich stärker bremsen und ohne zu wissen warum, müssen Fahrer weiter hinten plötzlich ganz anhalten.
Von Ameisen lernen und Staus vermeiden
Das Stau-Problem ließe sich lösen. Doch die Hürden dafür sind hoch, denn: Menschen müssten sich weniger wie Menschen verhalten. Ameisen beispielsweise agieren völlig selbstlos und orientieren sich strikt am langsamsten "Verkehrsteilnehmer". Wer anhalten muss, tritt zur Seite. Menschen hingegen sind Egoisten, fahren zu dicht auf, wechseln auf die vermeintlich schnellere Spur.
Eine Möglichkeit, den Faktor Mensch zu egalisieren, wäre das autonome Fahren: "Wenn ausschließlich automatisierte Fahrzeuge unterwegs wären, die alle miteinander kommunizieren, dann könnte die jetzige Kapazität der Straße verdoppelt werden", sagt Michael Schreckenberg. Zuvor gelte es aber noch viele Fragen zu lösen. Etwa, wie sich in der voraussichtlich langen Übergangszeit voll automatisierte oder autonome Fahrzeuge mit den menschlichen Fahrern vertragen.
Bis dahin gilt: Rücksicht nehmen. Bei stockendem Verkehr auf der eigenen Fahrbahn bleiben. Zügig weiterfahren, wenn es losgeht und zu dichtes Auffahren vermeiden. Und im Falle eines Staus auf der Autobahn bleiben, anstatt auf Bundes- oder Landstraßen auszuweichen. "Bei Überlastungsstaus bis zehn Kilometern ist man auf einer Umfahrung in der Regel langsamer", so Schreckenberg. Vielmehr würden sich dann zahlreiche weitere Staus auf den Nebenstraßen bilden, da deren Kapazität so deutlich geringer sei.