PiS verliert Mehrheit in Polen: Nähert sich das Land wieder der EU?

Aktuelle Stunde 16.10.2023 UT Verfügbar bis 16.10.2025 WDR Von Anderas Hodapp

Polen hat gewählt: Was bedeutet eine liberalere Regierung dort für uns?

Stand: 17.10.2023, 10:37 Uhr

Die Nationalkonservativen in Polen sind abgewählt. Auch in NRW waren die Wahllokale voll. Welche Auswirkungen hat eine neue, liberalere Regierung für die EU, Deutschland - und NRW?

Von Ingo Neumayer

Nach der Parlamentswahl in Polen gibt es einen Regierungswechsel: Zwar holte die nationalkonservative Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) laut dem amtlichen Endergebnis die meisten Stimmen, verfehlte aber mit 36,8 Prozent die absolute Mehrheit. Eine Mehrheit haben dagegen drei Oppositionsparteien, darunter die liberalkonservative Bürgerplattform von Donald Tusk.

"Polen hat gewonnen, die Demokratie hat gewonnen, wir haben sie von der Macht vertrieben", sagte Tusk bereits am Sonntagabend in Warschau. Tusk war von 2007 bis 2014 polnischer Ministerpräsident und von 2014 bis 2019 EU-Ratspräsident.

Wahlkampf mit antideutschen Slogans

Die PiS-Partei des amtierenden Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki hatte mit einem gegen Deutschland und die EU gerichteten Wahlkampf versucht, Stimmen zu gewinnen. "Polen oder Deutschland: Du hast die Wahl" lautete einer der Slogans, mit denen die PiS antideutsche Stimmung in ihren Wahlwerbespots machte. Zuvor hatte die PiS-Regierung von Deutschland Weltkriegs-Reparationen in Höhe von über 1,3 Billionen Euro gefordert. Die Beziehung zwischen den beiden Nachbarländern gilt als schwer gestört.

EU hat Zweifel an Rechtsstaatlichkeit Polens

Auch zur EU hat die derzeitige polnische Regierung ein belastetes Verhältnis. So hat die PiS eine Justizreform initiiert, die dem Justizminister mehr Kontrolle über Staatsanwaltschaften und Gerichte überträgt. Die EU sieht darin eine Aufweichung der Gewaltenteilung und hat Strafzahlungen verhängt. Zudem wurden Polen Zuschüsse in Milliardenhöhe aus EU-Töpfen verweigert. Unter der PiS-Regierung wurden Lehrpläne an den Schulen geändert, um die Agenda der Regierung zu stärken. Auch in Sachen Abtreibung und Homosexualität fährt die PiS-Regierung einen rigiden konservativen Kurs, der von der EU scharf kritisiert wird.

Vielfältige lokale Beziehungen von NRW nach Polen

Die polnische Community in NRW ist groß: 650.000 Menschen zwischen Rhein und Ruhr sind polnischer Herkunft. Es gibt eine Vielzahl von Projekten und Kooperationen. Laut der Landesregierung bestehen derzeit rund 110 Städtepartnerschaften, rund 180 Schulpartnerschaften und mehr als 260 Kooperationen zwischen Hochschulen.

Der konservative Weg, den Polens Regierung seit einigen Jahren eingeschlagen habe, sei auch hier bemerkbar, sagte Lothar Harles, Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Köln-Bonn, dem WDR. So habe es teilweise Probleme und Irritationen bei polnischen Kommunen gegeben, wenn die Partnerstadt aus NRW offen und inklusiv mit LGBTQ-Gruppen umgegangen sei, etwa bei Festen. Da habe es bisweilen "Verwerfungen" gegeben, berichtet Harles.

Insgesamt spielt die aktuelle PiS-Politik bei den Beziehungen zwischen Polen und NRW allerdings eher eine kleine Rolle, glaubt Harles: "Der Jugend- und Schulaustausch läuft gut, die Beziehungen sind stabil und über Jahre gefestigt." So habe es 2023 beim deutsch-polnischen Jugendwerk sogar Wartelisten gegeben, weil so viele Jugendliche Interesse an einem Austausch bekundet hätten. Man solle den Einfluss der polnischen Regierungspolitik auf die lokale Ebene nicht ignorieren, aber auch nicht überbewerten.

Wahlbeobachterin: "Ging nicht um Polen, sondern um Europa"

2023: Wahlen in Polen

Stimmung in NRW-Wahllokalen "polarisiert"

Joanna Szymanska war am Sonntag als Wahlbeobachterin im Aachener Wahllokal tätig. Der Andrang in NRW sei groß gewesen, sagt sie. Obwohl deutlich mehr Wahllokale als in den vergangenen Jahren eingerichtet wurden, hätten die Menschen zum Teil mehrere Stunden bei der Stimmabgabe anstehen müssen.

Die Stimmung, die Szymanska bei der "Polonia", den hier lebenden Polinnen und Polen, wahrgenommen hat, beschreibt sie als "polarisiert". Die derzeitige politische Situation in Polen habe auch hier zu einer Spaltung in der Community geführt: "Entweder du bist liberal, oder du bist auf der Seite der Regierung - diese Trennlinie war deutlich spürbar", so Szymanska. Als Erfolg wertet sie die hohe Wahlbeteiligung, gerade bei jungen Polinnen und Polen. "Wir haben oft die Frage gehört: 'Warum wählt ihr überhaupt, ihr lebt doch in NRW?' Aber hier ging es nicht um Polen, sondern um Europa", glaubt Szymanska.

Entspannung der Beziehungen zu Polen erwartet

Oliver Loew, Direktor des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, sieht in dem möglichen Machtwechsel "einen neuen Aufbruch in den deutsch-polnischen Beziehungen". Es stehe eine "ganz andere Tonalität in den Kontakten mit Berlin, mit Brüssel" bevor, sagte er dem WDR. Er gehe davon aus, dass man zukünftig "sehr viel pragmatischer" ins Gespräch kommen werde, während die PiS-Regierung eher "den Konflikt gesucht" habe.

"Europäischer Frühling mitten im Oktober"

Der frühere deutsche Botschafter in Polen, Rolf Nikel, bezeichnete das voraussichtliche Wahlergebnis als "historisch". Die polnischen Wählerinnen und Wähler hätten "mitten im Oktober einen europäischen Frühling produziert", sagte er im ZDF. Man könne davon ausgehen, dass der polnische Gang in die "illiberale Demokratie nach Budapester Prägung" vorerst gestoppt sei.

Unsere Quellen:

  • Interview mit Lothar Harles
  • Interview mit Joanna Szymanska
  • Oliver Loew im WDR 5-Morgenecho
  • Rolf Nikel im ZDF-Morgenmagazin
  • Ministerium für Bundes- und Europaangelegenheiten NRW
  • Material der Agenturen dpa, AFP, Reuters