Das Gedenken an Auschwitz auf Tiktok erhalten

Stand: 27.01.2023, 21:43 Uhr

Das alljährliche Gedenken an die Opfer von Auschwitz ist für viele junge Menschen mittlerweile abstrakt. Dennoch sei es wichtig, um die Gegenwart zu verstehen, sagen Experten. Holocaust-Gedenken müsse auch auf Tiktok stattfinden.

Von Nina Magoley

Mit Gedenktagen ist es so eine Sache: Je länger das Ereignis zurückliegt, desto größer das Risiko, dass dessen eigentliche Dimension und Dramatik mehr und mehr abstrakt wird. Dass die Tragweite und der mögliche Bezug zur Gegenwart weniger spürbar wird, dass Gedenkrituale zu Routinevorgängen werden.

Die Erinnerung an die Ermordung von sechs Millionen Menschen durch das Regime Adolf Hitlers hat hierzulande zwar immer noch eine wichtige Bedeutung. In seiner Ansprache zum Auschwitz-Gedenktag vor dem NRW-Landtag erinnerte Zwi Rappoport, Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe, am Freitag aber dennoch an die Worte des früheren Bundespräsidenten Roman Herzog: Der Holocaust-Gedenktag am 27. Januar dürfe keine "Alibi-Wirkung" bekommen.

Junge Menschen sind "moralisch überfordert"

Doch wie kann die Vorstellung von den Grauen des Holocaust Jugendliche im Jahr 2023 noch wirklich erreichen? Jens-Christian Wagner, Stiftungsdirektor der Gedenkstätte Buchenwald, beobachtet bei den jungen Besuchern eine Veränderung in der Wahrnehmung dieses Teils der deutschen Geschichte: "Wir haben es mittlerweile mit einer Generation zu tun, deren Großeltern den Nationalsozialismus in den meisten Fällen schon gar nicht mehr selbst erlebt haben", sagte er am Freitag im WDR. Auf diese jungen Menschen wirke "der Appell, sich an etwas erinnern zu sollen, als eine moralische Überforderung".

Ob sich die Schulklassen, die die Gedenkstätte Buchenwald besuchen, für die Thematik dort interessieren, hänge inzwischen kolossal davon ab, wie gut sie im Unterricht vorbereitet wurden, sagt Wagner. Sei das nicht der Fall, gehe das, was sie dort erfahren, oft "von einem Ohr zum anderen wieder raus".

KZ-Überlebende erzählen aus erster Hand

Lange tourten einige der letzten KZ-Überlebenden unermüdlich durch Schulen, um von ihren furchtbaren Erfahrungen aus erster Hand zu berichten. Zu ihnen gehörte auch die Künstlerin Esther Bejarano. In einem Interview mit dem WDR im Jahr 2015 erzählte sie, welchen Satz sie den Schülern immer mitgebe: "Ihr seid nicht schuld an dieser schrecklichen Zeit. Aber ihr macht euch schuldig, wenn ihr nichts über diese Zeit wissen wollt."

Solche Berichte direkt aus dem Mund der Betroffenen zu hören, seien sehr intensive Begegnungen, so Katharina Rücker. Für "Aktion Sühnezeichen" war die Studentin als Freiwillige in den USA, um Holocaust-Überlebenden in ihrem Alltag zu helfen. Durch diese Gespräche sei ihr bewusst geworden, dass hinter den Zahlen der Millionen Opfer einzelne Menschen und ihre persönlichen Geschichten stehen: "Das war super bewegend."

Um auch die Jüngere mit dem Gedenken an den Holocaust zu erreichen, müsse man "auf jeden Fall nah an den Menschen dran sein", sagt Katharina Rücker im WDR-Interview. Daher sei es gut, dass sich auch in den Sozialen Medien Berichte von Überlebenden finden.

Tiktok-Videos mit Millionen Likes

So veröffentlicht zum Beispiel die KZ-Gedenkstätte Neuengamme auf Tiktok Videos, in denen hochbetagte ehemalige Häftlinge berichten. Der Kanal besteht seit Ende 2021 und konnte nach eigenen Angaben innerhalb der ersten zwei Monate 10.000 Follower, 90.000 Likes und eine Million Views verzeichnen. Heute folgen "neuengamme.memorial" mehr als 27.000 Menschen.

Unter "belsenmemorial" zeigt auch die KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen kurze Videos - "Lerne Fakten zum Holocaust". Darin gibt es mal kurze Infos dazu, wie es in dem KZ zugegangen ist, mal werden die Tiktok-Accounts von noch aktiven KZ-Überlebenden gepostet: Der 99-jährigen Lily Ebert folgen zwei Millionen Menschen. Der 87-jährige Gidon Lev, der mehrere KZs überlebte, hat auf Tiktok mehr als 400.000 Follower und 7,8 Millionen Likes.

Holocaust thematisieren - ohne Leistungsdruck

Auch die Katholische junge Gemeinde (KjG) setzt auf die Wirkung der Sozialen Medien: In der Kampagne "Klartext gegen Faschismus" auf Instagram werden beispielsweise Alltagsbegriffe, die in einer abwertenden Haltung wurzeln, besprochen. Diese Posts, so Holzer, sollen Jugendlichen helfen, in Diskussionen zum Thema Antisemitismus "gut begründet widersprechen zu können".

Als Thema im Unterricht hänge der Holocaust vielen Schülern "leider zum Hals heraus", hat die ehemalige Relaschullehrerin festgestellt. Sobald es aber nicht mehr um Noten geht, würden konstruktiv Fragen erörtert werden wie: "Wie würden wir uns heute verhalten? Hätte ich den Mut, jemanden zu verstecken?".

Gedenken im Digitalen

Bildschirmaufnahme der virtuellen Ausstellung des NS-Dokumentationszentrums | Bildquelle: NS Dokumentationszentrum Köln

Außerhalb von Schule entsteht auch alljährlich eine digitale Ausstellung beim Kölner NS-Dokumentationszentrum zum Gedenktag an die Befreiung von Auschwitz. Sie wird regelmäßig neu von Schülern konzipiert und soll mit ihren Inhalten "eine Brücke in die Gegenwart" bilden, sagt Sprecherin Charlotte Pinon. Bei einem Rundgang durch ein virtuelles Gewölbe kann man viele gut gemachte Videos anklicken.

In der App "Zwischen den Häusern" kann man einen virtuellen Spaziergang machen und erfahren, wo es jüdisches Leben in Köln gab. Ein anderes Portal dokumentiert Geschichten von Jugendlichen zwischen 1918 und 1945.

"Falschinformationen im digitalen Raum"

Doch bei allen - noch längst nicht ausgeschöpften - Möglichkeiten zum Thema Gedenken in den Sozialen Medien: Gleichzeitig sind es Plattformen wie Twitter, Instagram oder Tiktok selbst, die auch bei jungen Menschen viele fragwürdige Bilder und Haltungen entstehen lassen. Buchenwald-Direktor Jens-Christian Wagner spricht von massenhaften "Falschinformationen im digitalen Raum".

Während sich Filterblasen mit Verschwörungslegenden, Antisemitismus oder Rassismus früher nur an Stammtischen bilden konnten, passiere das heute in den Sozialen Medien vor einem riesigen Publikum. Hier sei vor allem Medienkompetenz gefragt, so Wagner, und "Geschichtsbewusstsein, um mit historisch fundierter Information und auch einer klaren Haltung für Demokratie und Menschenrechte dagegenhalten zu können".